Wie ein Stadtrat lernt, Velo zu fahren, und dafür einen Preis gewinnt

Eine Schweizer Kleinstadt mit einem Leitbild für ein Veloroutennetz? Doch doch, das gibts. Im Thurgau. «Das Veloroutennetz Amriswil soll der Amriswiler Bevölkerung eine attraktive und sichere Infrastruktur bieten, damit sie auf dem Weg zur Schule, zur Arbeit, zum Einkaufen oder zu anderen wichtigen Zielen öffentlichen Interesses möglichst gefahrenfrei mit dem Velo unterwegs sein können», heisst es darin im ersten Satz. Zwar ist man in Amriswil noch weit davon entfernt. Doch das Verkehrsmittel Velo ist dort inzwischen als Teil der Lösung des Verkehrsknotens anerkannt und der Auftrag, es zu fördern, in der Politik verankert. Dafür hat die Stadt im November den Thurgauer Energiepreis in der Kategorie Mobilität gewonnen.

«Das hat uns überrascht», sagt Vera Zahner Präsidentin von Pro Velo Thurgau. «Aber der Preis hilft uns sehr, wenn wir nun mit dem Kanton über Massnahmen verhandeln. Er übt einen gewissen Druck aus.» Zum Beispiel, wenn es darum gehe, Tempo 30 auf Kantonsstrassen einzuführen.

Mit Geduld ans Ziel
Das Velowegnetz Amriswil ist kein Tourismusprojekt, sondern für die Bevölkerung gedacht. Es besteht im Endausbau aus sieben Linien (Bild oben), welche die Stadt queren und die sicheren Verbindungen markieren. Amriswil sei aufgrund seiner flachen Topografie «prädestiniert zum Velofahren», sagt Vera Zahner. Wer durch Amriswil pedalt, nimmt das Velowegnetz freilich noch nicht wahr. Die Stadt lässt sich Zeit und will das Netz mit der laufenden Planung und dem ordentlichen Budget umsetzen. Zahner ist von diesem Vorgehen überzeugt, wenngleich es Geduld braucht: «Wenn man von Beginn weg von den möglicherweise hohen Kosten spricht und entsprechende Kredite fordert, sagen eh alle nein.»

Den Anstoss für das Velowegnetz hatte vor rund vier Jahren die «Freie Gruppe Amriswil» gegeben, eine lokale politische Initiative, die schwergewichtig grüne Anliegen vertritt. Sie reichte eine entsprechende Petition ein, worauf der Stadtrat eine Bevölkerungsumfrage durchführte. Eine Arbeitsgruppe fuhr unter anderem alle Strassen in Amriswil mit dem Velo ab und prüfte sie auf ihre Velotauglichkeit. Sie erstellte anschliessend ein Leitbild mit einem Massnahmenkatalog mit 80 Punkten und übergab beides im Februar 2014 dem Stadtrat zur Umsetzung. Im März wurde das Velowegnetz am Jahrmarkt der Bevölkerung vorgestellt. Der Stadtrat will nun das Velowegnetz in die bevorstehende Überarbeitung der Amriswiler Ortsplanung einbeziehen.

«Kein Problem»
Als nächstes geht es darum, die Beschilderung und Markierung der Linien zu veranlassen. Kleine Massnahmen wie Vortrittsregelungen auf Gemeindestrassen, welche die Stadt in Eigenverantwortung umsetzen kann, wurden bereits verwirklicht. Mehr Velo gefahren werde in Amriswil noch nicht, sagt die zuständige Stadträtin Daniela Di Nicola, sie stellt allerdings auch keinen Widerstand fest, selbst von ihrer Partei nicht, der SVP: «Solange wir haushälterisch mit den Finanzen, speziell auch in diesem Bereich umgehen, denke ich persönlich, wird es kein Problem sein, das Veloroutennetz voranzutreiben.»

Darauf setzt Pro Velo. Sie ist sich jedoch bewusst, dass die Nagelprobe dann folgt, wenn Massnahmen den motorisierten Verkehr beschränken. «Die Gesellschaft muss wollen und in den Köpfen muss sich das Denken wandeln», sagt Vera Zahner. «Eine autofreie Innenstadt wünschen sich viele, aber sobald es ans Eingemachte geht, sind sie dagegen.» Stadtrat Claudio Zaffonato sagt, es brauche «noch einige lösungsorientierte Kompromisse mit den Amriswiler Stimmbürgerinnen und Stimmbürgern», um das Konzept umzusetzen.

Zahner freut sich jedoch über die Initative der Stadt Amriswil. Viele Schweizer Städte seien überhaupt noch nicht so weit. Der Velofahrer ist beispielsweise gespannt, ob es die Gemeinden des unteren Seetals, durch die sein Arbeitsweg führt, schaffen, das Nein des Kantonsrats vom 5. November 2014 zur Talstrasse auch als Chance erkennen, den Veloverkehr in ihre Überlegungen für Alternativen einzubeziehen. In Hochdorf zum Beispiel, meinem Wohnort, ist es noch nicht einmal möglich, sicher mit dem Velo aus dem westlichen Dorfteil zur Oberstufenschulanlage zu gelangen. Es fehlt zum Beispiel eine sichere Furt über die Hauptstrasse.

Lösungen, die nicht auf vier Rädern angefahren kommen, haben gemeinhin einen schweren Stand. Lokale Initiativen wie jene von Amriswil lassen dagegen auf die Einsicht hoffen, dass der Auswegs aus dem Verkehrschaos nicht länger motorisiert erfolgen kann.

 

Das Fahrzeug links hat mehr PS, mit demjenigen rechts kommt man in der Stadt dafür schneller voran.
Das Fahrzeug links hat mehr PS, mit demjenigen rechts kommt man in der Stadt dafür schneller voran.

 

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