Herr Lesewitz ist kein rasender Radler

Die Reiseschriftstellerei ist ein anspruchsvolles Schreibwerk. Zweifelsohne in der Sparte Fahrrad. Selten, dass jemand es schafft, über mehr als eine langweilende Auflistung seiner abpedalten Kilometer und anpedalten Stationen hinauszukommen. Henri Lesewitz hingegen, Jahrgang 1972, Ossi der letzten Generation, hochgedopter und fallen gelassener DDR-Junior auf dem Rennrad, heute Redakteur der Zeitschrift «Bike», schafft es, mit seinem Zweitling «Endlich Rasen» einen Durchleser auf den Markt zu bringen. Sein «Abenteuerversuch auf dem ehemaligen innerdeutschen Grenzstreifen», wie er die knapp 290 Seiten zwischen zwei Buchdeckeln nennt, ist ebenso kurzweilige Lektüre wie langanhaltende Geschichtslektion.

Im Sommer 2009 hat sich Leisewitz auf den Weg – genauer: Auf die Räder – gemacht, um abzufahren, was Deutschland und Deutschland während 40 Jahren getrennt hat: Eine Grenze, die für beide Seiten unberührtes Niemandsland und, für das DDR-Volk vorab, Terror-Territorium war. Um die 1200 Kilometer vom Bayerischen Wald bis zur Ostsee. Was Leisewitz dabei erlebt, wie er Selbiges beschreibt und mit eigenen Erinnerungen anreichert, ist unterhaltender und lehrreicher als jeder Museumsbesuch. Seine Entdeckungen und Begegnungen machen lachen und stimmen nachdenklich. Und sie sind in einer überaus verspielt-originellen Sprache verfasst. Der Mann hat ein Gespür für die Feinheiten des Alltags. Und der Wortwahl. Was den Inhalt betrifft, ist dem Lesewitz‘ Fazit zuzustimmen, wie es der Medientext festhält: «Die Mauer ist weg, die Grenze geblieben.»

Offen bleibt allerdings, was Lesewitz mit dem Titel meint: «Endlich Rasen». Rasen als Substantiv: Muss er wohl so verstehen. Jedenfalls platziert er Zelt und Bike auf dem Titelbild auf kurzgemähtem Grün. Oder aber rasen als Verb? Rasen durch die Zeit? Ossis, die ihr Leben seit dem Mauerfall unfreiwillig beschleunigt sehen? Mit dieser Auslegung dürfte Lesewitz bei der Titelwahl ebenfalls geliebäugelt haben. Die kurze Passage auf Seite 254 jedenfalls, aus freund-eidgenössischer Sicht besonders sympathisch wirkend, deutet jedenfalls darauf hin. Lesewitz sitzt da frühmorgens auf der Bank vor einer Bäckerei, streicht sein noch frischwarmes Frühstücksbrot. Und stellt fest: «Mein Schweizer Messer (…) verfügt zwar über eine Klinge, doch deren Leistungsfähigkeit fiel dem ebenfalls integrierten, umso arbeitsfähigeren USB-Stick zum Opfer – 2 GV mit 2.0Hi-Speed device und 8MB/s. Was für ein Witz: Ich kann alle meine Fotoalben, sämtliche je aufgenommenen Morissey-Alben und dazu noch ganze Online-Ausgaben der Süddeutschen Zeitung auf meinem Messer speichern, nicht aber eine Scheibe Brot damit abschneiden. Demnächst bekommt das Brot noch einen USB-Anschluss. Es wird einfach nichts besser durch den Computerkram. Alles löst sich permament auf in Möglichkeiten, die kein Mensch braucht. Man ist nur damit beschäftigt am Ball zu bleiben. Ein unaufhörliches Treten auf der Stelle. Mit Höchstgeschwindigkeit.»

Endlich Rasen? Oder endlich rasen? Endlich aufhören zu rasen.

Henri Lesewitz, «Endlich Rasen. Ein Abenteuerversuch auf dem ehemaligen innerdeutschen Grenzstreifen», Delius Klasing Verlag, Bielefeld, 2010, ISBN 978-3-7688-3223-6, Fr. 19,50, 287 Seiten, 10 S/W-Fotos.

Nachbemerkung 1: Die Grenzsteintrophy ist ein freies Velo-«Rennen», das der deutsche Radsport-Enthusiast Gunnar Fehlau heuer zum zweiten Mal organisiert hat. Mehr dazu unter diesem Link.

Nachbemerkung 2: Ich habe Henri Lesewitz den Link zu dieser Buchkritik gemailt und ihn nach seiner Interpretation des Titels gefragt. Seine Antwort: «Dein Absatz mit den Überlegungen zum Titel hat mir besonders gefallen. Es stimmt: Er ist zweideutig. Einerseits soll er die Lust am Radfahren transportieren. Zum anderen, und das ist mir viel wichtiger, plakatiert er die Wandlung des einstigen Todesstreifens zum geschichtsumwehten Naturgut.»

Teile diesen Beitrag

Kommentar verfassen