Monsieur Wittmann, Clément Wittmann, tut, was hierzulande jedem Politiker und jeder Politiker die Augen für den wahren Alltag öffnete: Er pedalt durch sein Land, Frankreich, um die Unterschriften von 500 gewählten Amtsträgerinnen und -trägern zu sammeln, damit er im April für die Präsidentschaftswahlen kandidieren kann. Seit Mai 2011 ist Wittmann so unterwegs, bis Ende März hat er Zeit. Die Hürden der Demokratie sind in Frankreich hoch, um sich als Staatsoberhaupt auch nur zur Wahl stellen zu können. Wikipedia erläutert: «Um zur Wahl antreten zu können, muss der Kandidat mindestens 23 Jahre alt sein und selbst wählen dürfen. Darüber hinaus muss er mindestens 500 Unterschriften von Unterstützern sammeln, die selbst gewählte politische Ämter innehaben. In Frage kommen gut 42.000 Mandatsträger. Dies sind vor allem Bürgermeister, aber auch Abgeordnete der Nationalversammlung, Senatoren oder Parlamentarier der Gebietskörperschaften wie die Regional- und Départements-Räte. Sie müssen aus mindestens 30 verschiedenen Départements oder französischen Überseegebieten kommen, wobei für kein Département mehr als ein Zehntel der notwendigen Unterschriften, also 50, abgegeben werden können.» Diese Vorschrift begrenze die mögliche Anzahl der Kandidierenden auf etwa 80 und fördere die Mainstream-Politik sowohl rechts wie links, schreibt der «Zeitpunkt»: «Besonders originelle Köpfe oder politische Aussenseiter haben nämlich verschwindend kleine Chancen, die nötigen 500 Unterschriften beizubringen.»
Clément ist so ein Kopf, ein französischer Wachstumsverweigerer im Kampf gegen die wachstumshörige Wirtschaft und Politik. In seine Tour hat er auch fünf Schweizer Etappen eingebaut und im November und Dezember als Gast der fünf schweizerischen Décroissance-Gruppen in Genf, Neuchâtel, Basel, Lausanne und Bern in sogenannten Cafés Décroissance über seine Motivation, seine Ziele und seine Erfahrungen berichtet. Décroissance möchte – Zitat von www.decroissance-bern.ch – dazu beitragen, dass die Menschen sich aus dem zerstörerischen Wachstumszwang unserer Wirtschaft befreien können. Die Gruppe sieht sich als Teil der weltweit aktiven Bewegung für Wachstumsverweigerung.
Die wahre Welt wahrnehmen
Doch darum geht es nicht in diesem Beitrag, sondern um Cléments Wittmanns Wahlmobil, das eben ein Velo ist und kein Van oder gar aufwändig gestylter Car; ein Fahrzeug also, auf dem man die Welt aus eigener Kraft er-fahren muss und kann und darf, und ebendies eröffnet ganz andere Sichten auf den Alltag, will heissen, die Wirklichkeit ausserhalb des angepeilten Parlamentsgebäudes. Ich lese zurzeit David Byrnes «Bicycle Diaries», das Reisetagebuch dieses in den USA lebenden britischen Musikers schottischer Herkunft, der als Gründer der Popgruppe Talking Heads bekannt wurde. Byrne erkundet die Welt vorzugsweise auf dem Velo, weil dieselbe vom Sattel aus am präzisesten wahrzunehmen glaubt. Über die Fahrt die heruntergekommenenen Vorstädte Detroits etwa schreibt er: «In gewisser Weise war das eine der besten und denkwürdigsten Fahrradtouren, die ich je gemacht habe. Im Auto hätte man sich eine Strasse gesucht, eine der berüchtigten betonierten Verkehrsadern, und nichts gesehen. Stundenlang neben all dem herzufahren war eindringlich und erschütternd – in einer Weise, wie man nicht einmal antike Ruinen sein können. Nur zu empfehlen.»
Auch der hiesigen Politikerschaft. Bevor man über Ein- und Umzonungen, Schnell- und langsamere Strassen, Schulbauten und Kinderspielplätze, Engpässe, Gefahrenherde, Zugeständnisse und weiteres mehr entscheidet. Lebensbedingungen also, die man hinterm Steuer nicht zwangsläufig wahrnimmt.
Freilich: Dass man in der Schweiz sogar als Bundesrat kandidieren kann ohne Zustimmung auch nur eines einzigen Gemeindepräsidenten, da ist schon gut.