So viele Velos und, ach, keiner fährt damit rum

Es ist wie eine Sucht. Der Besuch wie ein Flash, auf den die Ernüchterung folgt. Jahr um Jahr gönnt sich der Velofahrer einen freien Tag, um die Eurobike zu besuchen, die weltgrösste Velomesse in…

Es ist wie eine Sucht. Der Besuch wie ein Flash, auf den die Ernüchterung folgt. Jahr um Jahr gönnt sich der Velofahrer einen freien Tag, um die Eurobike zu besuchen, die weltgrösste Velomesse in Friedrichshafen am Bodensee. Er geniesst es, durch das Dutzend Hallen zu schlendern, sich von neuer Technik und filigranen Konstruktionen begeistern zu lassen, raffinierte Lösungen…zu bestaunen und neue Nice-to-Haves ins Wunschbüchlein zu notieren. Das war dieses Jahr, gestern, am 31. August, nicht anders.

Der Velofahrer steckt im Stau
Er, der Velofahrer, gerät in dieser Welt aber auch mal um mal ins Grübeln. Weil sie ihm vortäuscht, was nicht ist, will heissen: Die wirkliche Welt gar nicht will. Das, was die deutsche Schriftstellerin Bettina Hartz, passionierte Velofahrerin, in ihrem neuen Buch «Auf dem Rad. Eine Frage der Haltung»* so beschreibt:

«Dabei wäre durchaus eine Umkehrung der Verhältnisse denkbar, denn liesse sich die Ordnung des Verkehrs nicht von seinem langsamsten und schwächsten Teilnehmer aus entwerfen? Ähnlich den von Fussgängern und Radfahrern gemeinsam benutzten Wegen, hätten Fussgänger dann immer und überall Vorrang, als überzöge die Strassen der Stadt ein einziger grosser Zebrastreifen; und ebenso die Radfahrer vor den Motorisierten, als wäre die Fahrbahn ein breiter Radweg. Wie unattraktiv würde das Autofahren und wie verkehrsberuhigt die Stadt, müsste auf jeden Fussgänger, der die Strasse überqueren will, Rücksicht genommen werden, würde den Radfahrern grundsätzlich an allen Kreuzungen und Ampeln Vorfahrt eingeräumt.»

Verkehrspolitik ist kein Thema
Genau. Statt dessen aber fährt die Mehrheit der Messebesucher mit dem Auto an und steckt der Bus, der die paar übrigen vom Hafen und Bahnhof herbringt, erstmal im Stau. Die Zweiradindustrie glänzt zwar an der Eurobike allemal mit einer Fülle spannender Neuerungen, die das pedalgetriebene Unterwegssein angenehmer und und leichter machen. Sie ist aber in erster Linie ein Geschäft. Wer mit all den Velos herumfährt, ist an der Messe kein Thema. Das ist einerseits bedauerlich und zeugt anderseits vom Stellenwert des Velos in der Verkehrspolitik. Während Autosalons von ranghohen Staatsbediensteten eröffnet, automobile Entwicklungen dort hochgelobt und die Bedeutung der Branche für den Arbeitsmarkt unterstrichen werden, er-fahren Politikerinnen und Politiker das Land ihrer Untertanen kaum je vom Velosattel aus. Und während die Zeitungsredaktionen die Autoindustrie für jeden Schluck Benzin, den sie einzusparen sich bequemt, mit einer halben Seite belohnt, belohnt sie Spezies Velofahrer bestensfalls einmal im Monat für die vielen Schlucke, die sie noch gar nie verschwendet hat, mit einer Randspalte.

Ein kleiner Lichtblick: An einer Art Fahrradgipfel am Rand der Eurobike erklärte sich die Fahrradindustrie bereit, die Lobbyarbeit stärker zu unterstützen, sowohl finanziell wie auch ideell. Sie tun dies freilich in erster Linie aus wirtschaftlichen Überlegungen, keineswegs ökologischen, wie eine Medienmitteilung des ADFC, des Allgemeinen Deutschen Fahrradclubs, durchscheinen lässt. Die Lobbyarbeit werde sich nachhaltig auf die Verkaufszahlen auswirken, heisst es darin: «Wäre der Radverkehrsanteil überall in Europa so hoch wie in Dänemark, ließen sich jährlich 30 Millionen Fahrräder mehr verkaufen. Selbst wenn sich der Radverkehr in Europa nur verdoppeln würde, nähme der Verkauf von Fahrrädern um zehn Millionen Stück zu.»

Die Autoindustrie muss nicht für mehr Strassen lobbyieren
Nun, dieses Argument ist nicht verboten, und wenn es der Sache dient, heiligt der Zweck die Mittel durchaus. Am Ende geht es aber darum, was Tim Blumenthal, Chef der amerikanischen Lobbyorganisation Bikes Belong, an dem Fahrradgipfel aufzeigte: 60 Prozent der Bevölkerung würden grundsätzlich auch im Alltag das Fahrrad nutzen, wenn sie sich sicherer fühlten.

ADFC-Bundesgeschäftsführer Burkhard Stork sagte: «Soviel Downhill-Mountainbikes kann die Industrie gar nicht verkaufen, wie sie an 50 Prozent mehr Pendlern verdient, die aufs Rad umsteigen.»
Zum Vergleich: Die Autoindustrie muss sich nicht darum kümmern, dass ihre Produkte auch benutzt werden können. Das übernimmt der Staat für sie. Im Einverständnis mit der Mehrheit der Steuerzahler, die neuen Autobahnen und teuren Anschlüssen in der Regel grossmehrheitlich zustimmt.

So viele Farben, so viele Velos, so viel Betrieb: Man wünscht sich als Messebesucher, auch auf unseren Strassen herrschte velomässig eine solche Vielfalt.

Ein interessanter Nebenaspekt betrifft, so die Medienmitteilung weiter, die Bahn: Nach einer Analyse des Europäische Radfahrerverbands (ECF) und des ADFC verkaufen Länder mit dem höchsten Anteil an Fahrradtransport in öffentlichen Verkehrsmitteln auch die meisten Fahrräder. «Stiege der Fahrradtransport in Deutschland um vier Prozent wie im Entwurf des Nationalen Radverkehrsplans 2020 vorgesehen, ließen sich 800’000 Fahrräder mehr verkaufen, schätzen ADFC und ECF.» (Schöne Grüsse an die SBB!)

Nun, schön wär‘ gewesen, der ADFC hätte seine Position an der Eurobike auch öffentlich kundgetan. Mit einem grossen Stand zum Beispiel, sinngemäss übertitelt mit «Wir setzen uns dafür ein, dass sie mit ihrem Velo auch schnell und sicher ans Ziel kommen.»
Die Messeleitung müsste den Velolobbyisten nächstes Jahr umsonst ein paar Quadratmeter an auffälliger Lage zur Verfügung stellen. Sie täte dies aus langfristigen Überlegungen und aus eigenem Interesse. Der Velofahrer wird 2013 überprüfen, ob man in Friedrichshafen diesen Blog liest.

*Das Buch hat der Velofahrer derzeit in Arbeit. Mehr dazu demnächst unter dieser Adresse.

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