Velofahrer lassen sich nicht unterkriegen

Wolfgang Lötzsch (rechts) 1988 beim Strassenrennen Berlin-Leipzig, einem Klassiker im Strassenradsport der ehemaligen DDR. (Quelle: http://nl.wikipedia.org/)

Er hatte das Zeug zum Weltmeister. Zum Olympiasieger. Wolfgang Lötzsch war Anfang der siebziger Jahre das Radsporttalent der ehemaligen DDR. Doch 1972 schloss ihn die Sportfunktionäre aus dem staatlichen Fördersystem aus. Grund: Lötzsch wurden Verbindungen zu einem Cousin nachgesagt, der in den Westen geflohen war. Doch der Mann liess sich… auch von zehn Monaten Gefängnis nicht unterkriegen; er trainiert verbissen allein weiter – und siegt und siegt. Nach der Wende wird ihm das Bundesverdienstkreuz verliehen. Und im Juni dieses Jahres nimmt ihn die deutsche Sporthilfe in die «Hall of Fame des deutschen Sports» auf. Für Wolfgang Lötzsch eine späte Genugtuung: Es freue ihn, dass die Jury anerkannt habe, «dass ich für meine Überzeugungen, für mein Beharren auf die Freiheit des Einzelnen, auf manch einen sportlichen Triumph verzichtet habe. Und dass ich, wenn ich entsprechend gefördert worden wäre, vieles mehr hätte erreichen können. Davon bin ich überzeugt und die Jury offenbar auch.»

Sich zum Leben entfalten

Lötzsch, der dieses Jahr 60 wird und als Teammechaniker arbeitet, schreibt dies im Vorwort zur Neuauflage seiner Lebensgeschichte, die Philipp Köster unter dem Titel «Lötzsch. Der lange Weg eines Jahrhunderttalents» im Radsportverlag Covadonga herausgegeben hat. Schicksale wie jenes von Wolfgang Lötzsch gäbe es aus der ehemaligen DDR viele zu erzählen. Sie fesseln. Lötzsch‘ Geschichte beeindruckt den Velofahrer als Vater dreier Kinder (19, 21. 22) deshalb besonders, weil Kinder und Jugendliche immer wieder und überall die Erfahrung machen müssen, nicht zu dürfen, was sie können. Damit sei beileibe kein Vergleich mit den damaligen DDR-Verhältnissen gezogen. Doch Kinder und Jugendliche sollen sich entfalten, in ihren Stärken gefördert werden und darin aufblühen können, gerade auch dann, wenn diese nicht den Vorstellungen der Eltern entsprechen. Oder der Schule. Doch wie häufig müssen Söhne und Töchter spuren und funktionieren, bloss weil «es» die Regel ist, «man» es so macht und gewohnt ist?

Zwei Beispiele dazu aus dem eigenen Leben: Ein Schulkollege, der vor Jahren an der Autorität des Vaters scheiterte, der ihn zum Zahnarzt und Nachfolger in seiner Praxis bestimmt hatte. Das Talent, das sein Sohn als Musiker und Zeichner bewies, war dem Vater nebensächlich. Das andere Beispiel: Des Velofahrers Sohn hat vor bald einem Jahr seine sportliche Erfüllung im Rudern gefunden und lässt keinen Tag das Training aus.

Der Abschnitt, der die Siegerehrung beschreibt, nachdem Wolfgang Lötzsch 1992, nach der Wende, im Alter von 40 Jahren deutscher Mannschaftsmeister geworden war, hat mich deshalb am meisten in diesem Buch berührt: «‹Ein Radstar fuhr die Vergangenheit weg›, wird am Tag darauf die Bild-Zeitung schreiben. Zur Siegerehrung drängen sie sich zu viert auf das Podest und warten auf die Hymne. Als sie gespielt wird, überkommen Wolfgang Lötzsch die Tränen. Er weint und weint und weint. Es sind Tränen aus zwanzig Jahren.»

[blue_box]Philipp Köster, «Lötzsch. Der lange Weg eines Jahrhunderttalents», Covadonga-Verlag, Bielefeld,  ISBN 978-3-936973-72-3, Hardcover, 272 Seiten, ca. Fr. 24.00[/blue_box]
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