Ein bisschen Mobilitätspsychologie aus Sicht des Velofahrers

Drei Wochen, nachdem der «Tages-Anzeiger» eine Debatte über das Velofahren in der Stadt Zürich angerissen hat, ist es Zeit, darüber zu sinnieren, weshalb Autofahrer häufig aggressiv und trotzig auf Vorschläge zur Veloförderung reagieren, und anderseits Velofahrer meinen,auf der Strasse rechtfertige ihre ökologisch unbedenkliche Art der Fortbewegung jede Rechtsmissachtung.

Wehe, wenn es eng wird

Die Gründe für solches Verhaltensweisen erschliessen sich mir nicht ohne weiteres. Was vielleicht die Ursache dafür ist, dass heutzutage Menschen mit Mobilitätspsychologie ihren Lebensunterhalt verdienen können. Eine Vertreterin dieser Disziplin ist Antje Flade, die in Hamburg als Autorin umweltpsychologischer Beiträge und Sachbücher sowie als Gutachterin und Beraterin in wissenschaftlichen Beiräten und Projektgruppen tätig ist. Vom Velofahrer um eine Erklärung gebeten, schreibt sie Folgendes: «Auto- und Radfahrer geraten immer dann aneinander, wenn es im Verkehrsraum eng wird. Aus umweltpsychologischer Sicht hat man es hier mit dem Problem des ‹Crowding› zu tun. (crowd, englisch für Ansammlung, Menge; red.) Beengtheit bedeutet Einschränkung von Handlungsspielraum, was frustriert und aggressiv machen kann. Radfahrern wird zwar relativ wenig Raum zugestanden, aber sie kommen immer noch voran, wenn die anderen im Stau stehen. Das weckt Neidgefühle und verstärkt die Aggressionen.»

Andrea Fischer hieb am 13. November auf «Tages-Anzeiger» online in dieselbe Kerbe. Ihr Beitrag war womöglich ironisch gemeint, wir nehmen ihn aber angesichts von Antje Flades Kurzanalyse sehr ernst. Unter dem Titel «Wir basteln uns eine Verschwörungstheorie» stellt Andrea Fischer fest:

«Fussgänger finden Velofahrer böse. Autofahrer finden Velofahrer böse. Alle anderen sich gegenseitig auch. Aber am bösesten sind die Velofahrer. Wie ist das möglich? Sie sind nicht die gefährlichste der drei Parteien, nicht die lauteste, nicht die umweltschädigendste, nicht die raumgreifendste. (…) Dahinter stecken (…) die Autos, beziehungsweise ihre Lobbies. Munter nach dem guten alten ‹Teile und Herrsche›-Prinzip drängen sie die Velofahrer in den Fokus allen Ärgers über den Verkehr. Und das ist durchaus auch physisch gemeint. Weil die Velos an neuralgischen Orten aus Überlebenswillen auf das Trottoir ausweichen, regen sich verständlicherweise die Fussgänger auf. Natürlich liegt das auch am oft rüpelhaften Benehmen der Velofahrer, die nicht realisieren, dass sie damit Wasser auf die Mühlen der Autofahrer giessen und das Bild vom bösen, bösen Velofahrer noch zementieren. Das ist gar nicht schlau – und vermeidbar.

Denn: Gäbe es weniger Autos, wären die Strassen nicht so unsicher. Also würden die Velofahrer auch nicht mehr auf den Trottoirs fahren, wo man eh nicht vernünftig vorwärtskommt. Bloss scheint niemand diesen Zusammenhang wahrnehmen zu wollen.

Darum mein Aufruf: No-Motorarier aller Länder vereinigt euch! (…) Das Mittel zum Zweck: Charmeoffensive. Langsam fahren, freundlich sein, absteigen, zulächeln. Ist altmodisch, aber der logische erste Schritt.»

Soweit Andrea Fischer.

A propos freundlich sein: Stimmt schon. Selbst wenn es schwer fällt: Der Leitsatz «De Gschiider git nah, de Esel bliibt schtah» (der Klügere gibt nach, der Esel bleibt stehen) ist allemal die nachhaltigere Handlungsweise. Will heissen: Auch wer sich ärgert, bleibt immer schön anständig, um nicht dem Feind neue Nahrung vor die Füsse zu werfen. So besehen, bewirkt eine Critical Mass wie jüngst diese in Luzern genau das Gegenteil. Oder dienen Sätze wie die folgenden in Laurens Blog nur dem eigenen Frustabbau. «Leute wie der laut eigenen Angaben partei-, aber mitnichten feindbildlose Kommentarschreiber Daniel Münger sind arrogante Arschlöcher», schreibt Laurens. «Mit solchem Pissern diskutiert man besser gar nicht, denn das führt nur zu garantierter Verstimmung, aber nie zu Lösungen.»

Nun, ab und an eine Portion Dampf abzulassen, muss sein. Aber zu einer Lösung führt auch obige Schreibe nicht.  Meines Erachtens treffsicher analysiert René Lambert die Sachlage, eine mir unbekannte Person, die ich auf dem Facebook-Profil von Christoph Vetter (flamme rouge) entdeckt habe.  «Jeder, der mit einem Auto rumfährt, hat irgendwelchen Grund dazu zu vermelden. Jeder hat immer recht, und jeder vertritt seine nächsten Interessen. (…) Die ganze Gesellschaft ist auf dem Auto aufgebaut, das ganze Funktionieren der Arbeitswelt ist nur möglich mit den so heiss geliebten ‹Chärren›. Ich als Nichtautofahrer muss feststellen, dass ein heftiger Kampf zwischen Stadtvelofahrer und Autofahrer besteht und sich immer mehr verschlimmert. Je militanter die verfeindeten Gruppen gegeneinander antreten, umso schlimmer wird es werden.»

Christoph Vetter selbst pflichtet ihm bei und findet meine Zustimmung, wenn er schreibt: «Zuerst sollen sich die Velofahrer an die Regeln halten, dann gibts Velowege: Das ist übelste Vorkindergarten-Sandkastenrethorik und zielt zu kurz oder ins Schilf hinaus. Das ist (…) genauso dumm wie ‹Zuerst hört ihr auf beim Autofahren zu telefonieren.› Wird so nie funktionieren und ist überhaupt nicht lösungsorientiert.»

Velofahren rentiert

Wohin und woran sich eine Lösung orientieren sollte, hält demgegenüber Leserbriefschreiber Markus Mühlbacher in der «NZZ am Sonntag» vom 18. November 2012 fest: «Es gibt Studien, die belegen, dass für jeden in den Veloverkehr investierten Franken ein Mehrfaches an die Gesellschaft zurückfliesst. Der Veloverkehr hat volkswirtschaftlich eine positive Bilanz, während beim Autoverkehr je nach Quelle ein Negativ-Saldo von 11 bis 16 Milliarden Franken jährlich zu Buche steht. Es geht um Kosten, welche nicht vom Verursacher, sondern von der Allgemeinheit bezahlt werden: Gesundheitskosten etwa.»

Diese schönen Sätze lassen wir als Schlusswort gelten.

Rücksicht nehmen hilft auf dem Velo weiter als trötzeln. (Fotografiert am 17. November in Zürich)

 

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