Die Erkenntnis des Fahrradhändlers

Es gibt Bücher, deren Inneres erschliesst sich dem Leser, der Leserin erst nach mehrmaliger Lektüre. So erlebt dieser Tage beim Durchblättern und sodann abermaligem Lesen von Jean-Jacques Sempés «Das Geheimnis des Fahrradhändlers». Ein Erlebnis, das womöglich altersbedingten Grundes ist.
Vor zwei Wochen liess mir der Diogenes-Verlag, der die 1996 erschienene Bildergeschichte in der deutschen Übersetzung von Patrick Süskind verlegt, in deren kleinformatigeg Ausgabe zukommen. (*) Nun stand diese Preziose der Veloliteratur aber bereits in doppelter Ausführung in meinem Büchergestell, weshalb ich mich entschloss, dieses dritte Exemplar meinem Beinahe-Schwager zu dessen bevorstehendem 50. Geburtstag zukommen zu lassen. Dieser bedankte sich aufs herzlichste dafür und liess mich wissen, er habe das Büchlein gleichsam verschlungen.

Ein bisschen durcheinandrig, jedoch einladend: Paul Tamburins Velowerkstatt, gezeichnet von Sempé in «Das Geheimnis des Fahrradhändlers».
Ein bisschen durcheinandrig, jedoch einladend: Paul Tamburins Velowerkstatt, gezeichnet von Sempé in «Das Geheimnis des Fahrradhändlers».

Monsieur Tamburins folgenreicher Sturz
Was ich, der ich im März ebenfalls die 50 erreiche, nachvollziehen konnte, nachdem ich mir «Das Geheimnis des Fahrradhändlers» am Vorabend ein zweites Mal zu Gemüte geführt hatte. 1996 hatte es mir meine Frau untern Weihnachtsbaum gelegt. Was damals für mich schlicht eine bezaubernde Geschichte war, liebevoll im unverwechselbaren Sempé-Stil gezeichnet, darin las ich diesmal Tiefsinn und Lebensweisheit. In dem Büchlein geht es um den Fahrradhändler Paul Tamburin, dessen Geheimnis es ist, selbst gar nicht das Gleichgewicht auf zwei Rädern halten zu können. Ein fataler Sturz ist die Folge solchen Vorspiels. Als Feigenblatt, der ortsansässige Fotograf, mit einem Bild von Tamburins Flugkunst auf zwei Rädern Furore macht, will sich letzterer dem Fotografen anvertrauen – um prompt zu erfahren, dass auch dieser, Feigenblatt, seinen Erfolg mehr dem Zufall denn seinem fotografischen Können zu verdanken hat. Mit dem Ergebnis, dass beider nun geteiltes Geheimnis ihnen den Weg zum Glück ebnet. Die Geschichte endet in dem wunderschönen Schlusssatz: «Und er lachte immer lauter, bog sich vor Lachen, und auch Feigenblatt fing nun an zu lachen, denn ganz allmählich ging ihm ein Licht auf.»
Die beiden sind und leben fortan, was sie sind und können. Und streben nicht danach, Erwartungen zu genügen.

«Das Geheimnis des Fahrradhändlers»: Mit 50 liest sich die Geschichte anders als ich sie 1996 las, mit 33. Wie Monsieur Tamburin…

  • …muss ich nicht alles können,
  • …sollte ich zuerst auf mich selbst hören, statt mich nach vermeintlichen Gepflogenheiten zu richten,
  • …muss ich niemandem etwas beweisen,
  • …sollte ich weder mir noch sonstjemandem etwas vorspielen bzw. andere über mich anders denken lassen, als ich bin,
  • …sollte ich mir definitiv selbst am liebsten und nächsten sein, im Wissen darum, dass Selbstliebe die Voraussetzung für jegliche Nächstenliebe ist,
  • …bin ich noch lange nicht zu alt, um Neues zu wagen,
  • …möchte ich immer wieder erfahren, wie heilsam es ist, über sich selbst zu lachen,
  • … .

Das alles ist schön. Und wohltuend.

Jean-Jacques Sempé, «Das Geheimnis des Fahrradhändlers», aus dem Französischen von Patrick Süskind, Hardcover Leinen, 112 Seiten, Diogenes Verlag, Zürich, ISBN 978-3-257-06473-5, Fr 24.90.

*Zur Rezension; auf dieser Website werden gerne Bücher erwähnt und besprochen, die näher oder entfernter mit dem Velo zu tun haben.

P.S.: Von unfreiwilliger Ironie ist der Klappentext auf der Rückseite dieses Büchleins. «Das Geheimnis des Fahrradhändlers» sei die Geschichte «von einem, der auf dem Fahrrad nie ein Lance Armstrong werden wird», heisst es da über Paul Tamburin. Armstrong? Wer ist bzw. war denn das schon wieder?

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