Mit dem Velo dem Tatzelwurm auf der Spur

«Als echter Radfahrer hat man einen direkten, schönen Kontakt zur Erde und zu den Menschen.» Und: «Meine besten Überlegungen habe ich beim Wandern, aber vor allem beim Radfahren.» Das sagt der österreichischer Soziologe Roland Girtler. Dazu hat er eine Abhandlung geschrieben: «Vom Fahrrad aus. Kulturwissenschaftliche Gedanken und Betrachtungen.»
Darin beschreibt Girtler, 1941 geboren, was er 1990 auf einer Velotour rund um den Westzipfel Österreichs erlebt, vernommen und durchdacht hat; die 16 Tage waren als Grenz-Erfahrung angelegt, denn «Grenzen bestimmen das menschliche Leben in vielfältiger Hinsicht», stellt Girtler fest; der Grund dafür, weshalb er sich als Feldforscher unter anderem für Schmuggler sehr interessiert.

Das Büchlein, 2004 erschienen und 2011 neu aufgelegt, ist eine Entdeckung für Menschen, die das Radfahren des gemächlichen Unterwegs-seins wegen lieben. Girtler, den man sich lesenderweise als etwas kauzigen Einzelgänger vorstellt, sieht sich als Vagant und «in der noblen Tradition der alten Herrenreiter, (…) nämlich als Aristokrat der Landstrasse», und zwar «im Gegensatz zum Autofahrer», der für ihn «der Nachfahre der sklavisch arbeitenden und fluchenden Fuhrknechte und Lohnkutscher ist».

Girtlers Zeilen sind freilich keine Kampfschrift gegen die automobile Spezies, wiewohl er sich über sie immer mal wieder gehörig auslässt. Zum Beispiel so: «Der Autofahrer lebt in einer Art Scheinwelt, die sich ihm überall in den Restaurants und auf Autobahnen auftut. (…) Die Buntheit der Welt aber eröffnet sich so richtig erst dem in Stadt und Land wandernden Forscher und aufmerksamen Radfahrer.»

Allerlei Wahrheiten
So einer ist der Herr Girtler, und er nimmt seine Leserschaft freundlicherweise mit auf seine Gedankengänge, in die Stuben, die er unterwegs besucht, an die Stammtische und in die Museen. Da geht es um allerlei Themen, die mal kurzweilig, mal eher langfädig ausgebreitet werden; wen eines nicht interessiert, nimmt einfach in guter Radlermanier die nächste Abkürzung und blättert weiter. Die volle Strecke mitzuradeln lohnt sich aber, denn Girtler verpackt sein Sinnieren in eine Schreibe, die so einfach ist wie die Funktionsweise seines Gefährts; man versteht sie also und kommt mit ihm ins Gedankengespräch. Zwischen St. Johann und Innsbruck etwa sind «Wahrheiten» das Thema des Soziologen. Girtler schreibt: «Mit ihren sogenannten Wahrheiten haben Menschen einander ruiniert. Um wieviel gescheiter wäre es gewesenm wenn sie miteinander über ihre verschiedenen Perspektiven gesprochen hätten. Denn jeder hat auf seine Weise recht und jeder kenn einen Teil der Wahrheit.» Das sind «wahre» Sätze, die, flösste man sie jedem Kind schon mit der Muttermilch ein, die Welt zur problemfreien Zone machten.

In anderen Kapiteln – sprich: auf anderen Tagesetappen – geht es um die Zeit, um Rituale der Mannwerdung, um die Sprache der Gauner und anderer Subkulturen oder die Zuhälterei. Dazwischen streut Girtler Gedanken ein, die den Velofahrer in seiner Liebe zum Radfahren bestätigen. Etwa diesen: «Die Wolken hängen tief, aber was gibt es Schöneres, als frei und erhobenen Hauptes mit dem Fahrrad durch eine schöne Gegend zu radeln?»

Im Gasthaus «Zum feurigen Tatzelwurm»
Auf den folgenden Seite wiederum befasst sich Roland Girtler mit den Schlachtgesängen von Fussballfreunden, mit Wilderern oder der Magie, wobei ihn hinsichtlich derselben die Sagengestalt des Tatzelwurms besonders interessiert, deretwegen Girtler im Gasthaus «Zum feurigen Tatzelwurm» in Schliersee nächtigt. Weiter geht es sodann an die Pilgerstätte Altötting («frommes Betteln»), ehe er mit den «Bettelstudenten» wieder zuhause einfährt. Hier ist die Reise zu Ende.

«Vom Fahrrad aus» ist in einem handlichen Format erschienen. Im Vorwort der Neuauflage 2011 schreibt Girtler, dies sei seinem Verleger zu verdanken, der selbst ein Radfahrer sei. Er habe gelobt, den Band auf allen seinen Touren mitzuführen. – Nun, das ist, was mich betrifft, ein paar Gramm zu viel verlangt. Unterwegs auf zwei Rädern, will man sich nicht allzusehr be-schwer-en. Was indessen ratsam ist, tut der Radler, der im Sinne Girtlers durch die Lande pedalt, seit je. Er füllt das Notizbüchlein mit seinen Er-Fahrungen, die über verbreitete langweilige Kilometerfressen hinausgehen. Ein papierenes. Oder aber, zumindest, das gedankliche.

[blue_box]Roland Girtler, «Vom Fahrrad aus. Kulturwissenschaftliche Gedanken und Betrachtungen», LIT-Verlag, Münster, 2004, 2. Auflage 2011, 248 Seiten, ISBN 978-3-8258-7826-9, zirka 15 Franken.[/blue_box]
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