Demobilisierung oder: Der Fluch der Geschwindigkeit

130516_demobilisierung_kleinIn der aktuellen Ausgabe des «Zeitpunkt», der Zeitschrift «Für intelligente Optimistinnen und konstruktive Skeptiker», ruft Paul Dominik Hasler dazu auf, vom Gas zu gehen. Seine Lösung: Nicht zum Leben fahren, sondern das Leben zu uns kommen lassen. Der Velofahrer hat Hasler gebeten, seinen bemerkenswerten Text übernehmen zu dürfen. Der Erfinder der «Herzroute», über deren erste «Herzschlaufe» ins Seetal hier unlängst berichtet wurde, war damit umgehend einverstanden. Schönen Dank auch!

Der grösste Teil des Verkehrs ist Abfall. Um sich selbst zu bewegen, verschiebt der Mensch ein Zehnfaches an Masse. Vor den Folgen – Lärm, Gestank und Zersiedelung – flüchten wir mit noch mehr Verkehr. Das ist ein Teufelskreis, auch im öV. Die Lösung: Das Leben soll zu uns kommen.

Mobilität ist eine zentrale Lebensqualität. Wir möchten uns bewegen, den Ort wechseln, mit Menschen und Orten in Verbindung treten. Diese Fähigkeit besitzen alle Lebewesen in unterschiedlicher Ausprägung. Viele sind Mobilitätskünstler, manche von ihnen ihr ganzes Leben in Bewegung.

Auch der Mensch hat es weit gebracht. Mit Hilfe der Technik übertrifft er mittlerweile alle Tiere was Distanzen und Geschwindigkeit angeht. Aber der technische Aspekt der menschlichen Mobilität ist zwiespältig. Er ist Lösung und Problem zugleich. Von 1000kg Auto sind nur 10% eigentliche Mobilität, der Rest ist Verpackung, Mobilitätsabfall, «Verkehr».

Heute versuchen wir, den Abfallaspekt des Verkehrs zu reduzieren. Wir möchten mehr Mobilität pro Verkehr erreichen, indem wir unsere Transportmittel schlanker, sanfter und emissionsärmer machen. Unter diesem Blickwinkel lässt sich der öffentliche Verkehr als die bessere Mobilitätsform als das Auto und das Velo als die bessere Form als der ÖV erkennen. Die Reduktion der Nachteile stellt die Mobilität an sich aber nicht in Frage. Wer ein Hybrid-Auto fährt, ist ein Gutmensch, ebenso wer ausgiebig Zug fährt. Die damit verbundene Unruhe wird nicht hinterfragt.

Schlüsselfaktor der Mobilität ist die Geschwindigkeit. Sie prägt das Gesicht unserer Mobilität. Das Lieblingskind aller Verkehrstechniker erweist sich dabei immer mehr als Ursache der Verkehrsprobleme:

  • Höhere Geschwindigkeit führt zu weiteren Wegen. Je einfacher wir uns über Distanzen hinwegsetzen können, umso öfter tun wir dies. S-Bahnsysteme zersiedeln Landschaften rund um Grossstädte. Flugzeuge laden uns ein, Städtetrips oder Wochenendurlaube am Strand zu geniessen.
  • Die höhere Geschwindigkeit braucht Raum. Verkehrsinfrastrukturen wachsen in ihren Dimensionen, wenn darauf hohe Geschwindigkeiten möglich sein sollen. Autobahnen oder Schnellzugsstrecken brauchen ein x-faches an Land verglichen mit einer Fussgänger- oder Velopassage, die eine gleiche Menge Personen pro Zeit bewegen kann.
  • Hohe Geschwindigkeit schafft Gefahr. Ab 20km/h sind Kollisionen lebensgefährlich.
  • Hohe Geschwindigkeiten fordern viel Energie. Ein Zug mit Tempo 200 braucht das Vierfache an Energie eines Zuges mit 100.
  • Die höhere Geschwindigkeit führt zu mehr Lärm. Flugzeuge decken ganze Landstriche mit Geräuschteppichen ein; Autos oder Züge entwerten mit ihrem Lärm Tausende von Wohnungen entlang von Verkehrsachsen. Am Schluss flüchten wir vor dem Verkehrslärm und erzeugen weiteren Verkehr.
  • Geschwindigkeit führt zu sozialer Entfremdung. Deutlich erkennt man das in unseren Städten und Dörfern, wo jede Verkehrsachse Quartiere zerschneidet und Kinder isoliert. Oft enden die Kleinen vor dem Fernseher.

Bereits Leopold Kohr, ein österreichischer Ökonom und Philosoph, hat in den 70er-Jahren einen direkten Zusammenhang zwischen Geschwindigkeit und Zersiedelung nachgewiesen. Er widerlegte damit das Credo einer ganzen Planergeneration, dass die Probleme unserer Lebensweise durch höhere Geschwindigkeiten zu lösen seien. Seine Einsichten machten zwar Schule (z.B. über das Buch «Small ist beautiful» von E.F. Schumacher), verhinderten aber nicht, dass wir auch heute noch glauben, dass wir über eine Steigerung der Geschwindigkeit unsere Mobilitätsbedürfnisse lösen können.

Egal wie schnell man sich bewegt, noch schneller wäre besser: Paul Dominik Hasler.
Egal wie schnell man sich bewegt, noch schneller wäre besser: Paul Dominik Hasler.

Dass ausgerechnet die Geschwindigkeit Übeltäter sein soll, erstaunt. Unsere technikbegeisterte Gesellschaft träumt immer noch vom emissionsfreien Hochgeschwindigkeitszug oder dem schnittigen Elektroauto, das niemandem mehr schaden soll. Geschwindigkeit war bisher unverdächtig, solange sie «sauber» zustande kam. Dies scheint bei genauerer Betrachtung nicht der Fall. Ein Wasserstoffauto ist punkto Landverschleiss, Lärm, Energieverbrauch, Gefährdung, Zersiedelung und sozialer Entfremdung einem Benzinauto nicht überlegen, bloss in seiner Klimawirkung ist es etwas harmloser.

Unser Glaube an Geschwindigkeit ist so unerschütterlich, dass wir nach wie vor Milliarden in sie investieren, um damit eine «bessere Zukunft» zu erkaufen:

  • einen Gotthard Basistunnel für schnellere Güter- und Personenzüge
  • eine sechsspurige A1 für reibungslose Pendler- und Geschäftsfahrten
  • ein S-Bahn System Basel für den täglichen Weg vom Grünen in die Stadt
  • ein ausgebauter Flughafen Zürich, um sofort in alle Welt zu kommen.

Oft werden diese Ausgaben damit begründet, dass sie die weniger schlechte Investition seien. S-Bahnen sind besser als Autobahnringe, Hochgeschwindigkeitszüge besser als Flugzeuge und Flugzeuge zwar schlecht aber unvermeidbar. Ohne sie würde man zum wirtschaftlichen Hinterhof. Mobilität und Geschwindigkeit – offenbar eine Art Menschenrecht – werden nicht hinterfragt. Wehe dem, der sie anzweifelt.

Die Geschwindigkeit ist eine Göttin, ein Dämon, ein Fluch. Egal wie schnell man sich bewegt, noch schneller wäre besser. Wäre es möglich (und erschwinglich), abends nach New York ins Kino zu gehen, würden wir es machen. Schon heute fährt man 100 Kilometer zum nächsten Outlet-Park, ins Skigebiet oder den Wellness-Resort, dank ausreichender Geschwindigkeit. Mit dem Lötschbergtunnel kommen Walliser zur Arbeit nach Bern und mit dem Gotthardtunnel dereinst Tessiner nach Zürich. Und man kann sich die Frage stellen, warum wir nicht per Vakuum-U-Bahn in 15 Minuten nach Genf reisen sollen, wie das schon vor 30 Jahren gefordert wurde.

Wohin führt sie uns eigentlich, diese Göttin Geschwindigkeit? Hat sie ein Ziel? Gibt es ein gelobtes Land, das sich damit erreichen lässt? Wie sähe unser Leben aus mit einer weiter gesteigerten Geschwindigkeit? Soll die Schweiz wirklich noch kleiner werden durch kürzere Fahrzeiten? Sollen unsere Urlaubsziele noch ferner liegen? Muss in der knapper werdenden Zeit noch mehr Aktivität möglich sein? Ist der globale Austausch von Waren, Menschen, Brands und Renditen wirklich so wichtig? Ist die Uniformität der vernetzten Welt ein Segen? Ist das «Jederzeit-Überall» wirklich Freiheit?

Oder ist die Geschwindigkeit nur eine Ersatzdroge? Ist sie eine Beruhigungspille gegen die düstere Angst, wir könnten das Leben verpassen? Ist Mobilität ein unbewusstes Gegenmittel gegen drohende Banalität? Und woher kommt sie überhaupt, diese Angst, zu kurz zu kommen im Leben? Wer erzählt uns denn, dass es überall besser ist als zuhause? Was treibt uns an, dauernd mehr tun zu wollen, weiter unterwegs zu sein und schneller den Ort zu wechseln?

Medien, Internet und Telekommunikation bieten permanent Parallelwelten, die allesamt interessanter scheinen als mein kleines Fleckchen Realität, auf das ich fixiert bin. Was liegt näher, als den Ausbruch zu wagen: Ins angesagte Restaurant, auf die fabelhaften Malediven, ins Broadway-Musical, zum Shoppen nach Berlin. Je mehr wir uns einreden lassen, dass das «echte» Leben woanders stattfindet, umso mehr sind wir voller Sehnsucht, daran teilhaben zu wollen.

Mobilität ist eine Art Rettungsluke aus dem Bunker der Alltäglichkeit. Lebendig eingemauert fühlt sich, wer zwar alles mitbekommt, aber nirgends dabei sein kann. Es ist nur natürlich, dass wir zum Schwert der Freiheit greifen, auch wenn dieses eine Spur der Verwüstung hinterlässt. Der Fluchtreflex führt zum bekannten Hochrüsten mit Geschwindigkeit, Startpisten, Schnellbahntrassen und Antriebssystemen. Es ist uns kein Aufwand und kein Opfer zu gross, wenn es darum geht, der drohenden Öde zu entgehen, die sich in unser Leben geschlichen hat. Gerade weil es uns so gut geht, wird sichtbar, dass unsere Lebensentwürfe nicht mehr spannend sind. Wir haben alles und wollen noch mehr. Die gefühlte Enge bestätigt die Armut an Visionen und Herausforderungen. Mobilität als der Hilfeschrei einer sinnentleerten Generation?

Vielleicht geht es darum, langsam eine Art «Mobilitätsfrieden» zu entwickeln. Es soll keine von aussen auferlegte Mässigung sein, die mit Kontingenten und Strafpunkten Gute und Schlechte schafft. Aber es soll eine Art Lebensweisheit sein, die erlebbar macht, dass Mobilität nicht der einzige Schlüssel ist, «dabei» zu sein. Einen ersten Schritt machen derzeit die Jungen. Sie haben erkannt, dass es kein eigenes Auto mehr braucht, um am Leben teilzunehmen, das sie anzieht. Die Vernetzung hat sich auf eine virtuellere Ebene verlagert mit SMS, Facebook und Chatrooms. Man ist dabei ohne hingehen zu müssen.

Vielleicht ist die virtuelle Mobilität aber auch noch ein Zwang. Das ständige Online-Sein aus Angst, dass man etwas verpassen könnte, gleicht der physischen Mobilität noch sehr. Der echte Friede wäre also noch etwas frecher: «Ich reise nicht, weil das Leben zu mir kommt.» Was früher Königen vorbehalten war, ist der Schlüssel zur «Demobilisierung». Das Wort hat eine doppelte Bedeutung: Das Ende des Kampfes, die Entschleunigung. Das Heer an Pferdestärken ist nicht mehr nötig, die Kampfwagen werden nach Hause geschickt. Es tritt Friede ein. Es ist alles da, was es braucht.

Wer sein Leben zurückerobert, muss nicht mehr reisen, um es anzutreffen. Das Lokale, das Selbstgemachte bekommt eine neue Ausstrahlung. Wer reisen möchte, macht sich wirklich auf den Weg, rafft sich auf, nimmt sich mit, bewegt sich selbst. Dem Masslosen der Geschwindigkeit wird das Genügsame des Gemächlichen gegenüber gestellt. Nichts passiert ohne mich. Mein Leben wartet auf mich. Die Triebfeder der Mobilität bekommt eine Gegenspielerin: das Angekommensein.

Paul Dominik Hasler ist «Zeitpunkt»-Autor und Mitinhaber der Büro für Mobilität AG in Bern.

 

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