Weshalb und wo die Schweiz Velo fährt. Oder aber nicht

Velogeschichte – Velofahren-Geschichte – ist auch Autogeschichte. Das Auto hat bestimmt und bestimmt immer noch, wer wann und wo Velo fahren konnte und durfte. Beziehungsweise kann und darf.
Velogeschichte – Velofahren-Geschichte – ist auch Siedlungsgeschichte, Verkehrspolitik ist Siedlungspolitik. Denn: «Weil der Motor die Verzettelung ermöglichte, wurde er, sobald sie geschaffen war, unerlässlich. (…) Es entstand eine Eigendynamik, durch welche das Auto zum Dreh- und Angelpunkt eines durchs Automobil geschaffenen und von ihm geprägten Lebensstils wurde. (…) Was früher auf der Strasse, im Quartier oder auf dem Dorfplatz geschehen war, wurde nun durchs Automobil verstreut – wie auch verbunden. Dem hatte das Fahrrad nichts entgegenzusetzen. Fahrradfahren wurde nicht nur gefährlicher und ungemütlicher, es wurde auch ganz einfach unpraktisch.»

Die Sätze stammen aus dem Büchlein «Vorwärts rückwärts», in dem der Berner Verkehrshistoriker Benedikt Meyer (*) die «Geschichte des Fahrradfahrens in der Schweiz» schildert. Die knapp 90 Seiten schmale, leicht lesbare Schrift entstand aus einer Lizentiatsarbeit, Meyers Ziel war es, «den Wandel des Radfahrens im Kontext der wichtigsten verkehrs-, wirtschafts-, sozial- und umwelthistorischen Strömungen zu porträtieren“.

Seine Erkenntnisse sind weder neu noch überraschend, und sie gelten auch nicht einzigartig für die Schweiz. Überzeugte Velocipedisten wie unsereins lädt die Arbeit indes zu einer kurzweiligen Geschichtsfahrt auf zwei Rädern ein, auf der wir nach jedem Eck «Genau!» sagen. Oder aber: «Wusste ich gar nicht.» Für die motorisierten Verkehrspolitiker wiederum müsste Meyers Abhandlung Pflichtlektüre sein: Er lässt sie darin erkennen, wohin die ungezügelte Fahrt auf vier Rädern uns mittlerweile geführt hat.

Benedikt Meyer führt in die Zeit der Erfindung und Entwicklung des Fahrrads (1815-1910) ein und beschreibt danach die Geschichte des Fahrradfahrens hierzulande in vier Phasen: 1910 bis 1945, 1945 bis 1968, 1968 bis 1973 und 1973 bis 1980.

Fahrradfahren 1910-1945: Das Velofahren wird populär, die Bestände steigen an, die Gesellschaft wird mit der gleichzeitigen Entwicklung des Autos mobil. Folge: «Die konkurrierenden Partner gerieten zunehmend aneinander», schreibt Meyer. Und: «Den Radfahrern fehlte es an politischem Gewicht und finanzieller Potenz, um ihre Anliegen wirklich durchzusetzen.» Mehr und mehr wurde die Fahrradgeschichte nun vom Automobil bestimmt, so Meyer. «Der schleppende Radwegbau machte deutlich, dass der Verteilungskampf auf der Strasse nicht über bauliche Eingriffe gelöst werden würde. In den Vordergrund traten daher schärfere Gesetze und ‹erzieherische› Massnahmen.»

Fahrradfahren 1945-1968: Die Anzahl Autos steigt schnell, das Velo scheint seinen Zenit erreicht zu haben. In den Städten spitzt sich der Konflikt um den Strassenraum zu. Unter anderem wurden damals die immer noch bestehenden Veloprüfungen an den Schulen eingeführt. In der Debatte darum, um Radwege und Verkehrsgesetze ging es keineswegs bloss um die Verkehrssicherheit, sondern darum, so Meyer, «dass möglichst alles, was durchs Automobil verletzt werden konnte, von der Strasse verdrängt, verlagert, wegbeordert wurde». Denn: «Die vor dem Krieg noch verbreitete Autoskepsis wich nun rasch einer allgemeinen Autobegeisterung» – siehe Abschnitt 2 dieses Beitrags. Meyer streift in diesem Kapitel auch das Töffli: «Motorisierung wurde eine (männliche) biografische Norm.» Mit der Folge, dass sich fast niemand mehr aufs Velo als Verkehrsmittel setzen mochte. Dieses wurde zum Verkehrsmittel der Kinder. «Gemäss nun propagierter Logik mussten Kinder Fahrrad fahren, um Verkehrserfahrung zu sammeln und mit den Verkehrsgesetzen vertraut zu werden.» Die Fahrradverbände wiederum vernachlässigten die Krise, «auch bei ihnen wandelte sich das Rad zum Hobby, mit dem keine verkehrspolitische Agenda mehr verknüpft war».

Fahrradfahren 1968-1973: Die Motorisierung erreicht einen Grad, der ihre Grenzen erkennen lässt. «Das Autofahren verlor seinen Zauber», fasst Meyer zusammen. Der Einstellungswandel habe aber keinen grundlegenden Wandel im Verhalten bedeutet. Dabei hätte mit der aufkeimenden Kritik am Strassenverkehr und den engen Verhältnissen auf den Strassen einiges fürs Velo gesprochen. Doch «das Problem war», so Meyer, «dass das Rad gar nicht mehr als Verkehrsmittel angesehen wurde, geschweige denn als Lösung für die Verkehrsprobleme». Das Klappvelo war schliesslich ein Versuch, dem Fahrrad über Emotionen zu einer Renaissance zu verhelfen. Es habe eine Schlüsselrolle darin gespielt. «Es lockte Fahrradabstinente zurück in den Sattel, rüttelte die Branche auf, entstaubte das Image des Rades und ermöglichte neue Ideen für die alten Stahlrösser.»

Fahrradfahren 1973-1980: Die Ölkrise kurbelt die Nachfrage nach Velos an. Das Umsatzplus des Fachhandels sei aber ein Nebenschauplatz gewesen, erklärt Meyer. «Wichtiger war das neue Publikum: Leute, die seit ihrer Kindheit nicht mehr Velo gefahren waren, fanden zurück in den Sattel – und daran oft auch Gefallen.» Und: «In der Verkehrspolitik gewannen ausgewogenere, vielfältigere Leitbilder an Einfluss.» Die IG Velo, die Vorläuferin der heutigen Pro Velo, entsteht, Verkehrsfragen bestimmen die Abstimmungsagenda mit. 1974 wird die Initiative für zwölf autofreie Sonntag lanciert, aber 1978 an der Urne verworfen. Das Velo sei zwar in den 1970er-Jahren neu entdeckt worden, fasst Meyer zusammen. Aber «ein Revival als Pendlertransportmittel im Stil der 1930er-Jahre» blieb aus.

Der Zeit nach 1980 widmet Benedikt Meyer lediglich den Epilog seiner Abhandlung. Dies ist bedauerlich, denn seither hat sich das Velo technisch immens entwickelt, während ihm die Verkehrspolitik nach wie vor nicht den Stellenwert einräumt, den es darin haben könnte. In Anbetracht der Millionen und Milliarden, die der Staat für den Strassenbau und öffentlichen Verkehr ausgibt, betrachtet er das Fahrrad nach wie vor als Randerscheinung. Und treibt damit die Mühle, in die er sich solcherart begibt, selbst kräftig an: Je selbstverständlicher der motorisierte Verkehr rollen kann, desto weniger Grund besteht, das Velo als Alternative auf kurze und mittlere Strecken zu nutzen.

«Das Fahrrad hat noch offenes Potenzial», schliesst Benedikt Meyer. Das ist nicht übertrieben.

(*) Benedikt Meyer, geboren 1982, hat an den Universitäten Basel, Bern und Bordeaux Geschichte, Sozialpsychologie und Volkswirtschaftslehre studiert. Seine Dissertation «Im Flug» zur Geschichte der Schweizer Airlines und Passagiere erscheint diesen Sommer. Der engagierte Alltagsvelofahrer hat auch mehrere grössere Touren absolviert, darunter Basel-Bordeaux, Bern-Oslo und New York-San Francisco.

[blue_box]Benedikt Meyer, «Vorwärts rückwärts – zur Geschichte des Fahrradfahrens in der Schweiz“, Band 13 der „Berner Forschungen zur neuesten allgemeinen und Schweizer Geschichte, Bautz-Verlag, D-Nordhausen, ISBN 978-3-88309-880-7 [/blue_box]
Teile diesen Beitrag

2 Kommentare

Und was gern vergessen geht: In Holland, wohin heute die Schweizer Verkehrspolitiker mit entschuldigender Miene zeigen, war es bis in die Sechziger Jahre ähnlich. Das war mal ein Autoland wie die Schweiz es bis heute ist. Aber es wurde was unternommen. Allein die Topografie darf nicht als Entschuldigung für den heutigen Unterschied zwischen Holland und dem Rest der Welt vorgehalten werden.

Kommentar verfassen