Im Alter lass‘ ich mich dann mal radeln

Ich stell‘ mir vor, wie ich, bald 90, am Fenster sitze im Heim, die Beine wollen nicht mehr recht, aber der Kopf, der denkt zurück an die Kilometer im Sattel auf Tour, zur Arbeit und einfach so, an die Stunden in der Werkstatt, an der Velobörse. Griesgrämig werde ich darob sein, weil all das nicht mehr geht und der Giro am Bildschirm keinen Trost spenden wird. Die Pflegerin wird mich hin- und herschieben im Rollstuhl, ich werde sie anbrummen zum Dank und den Tag ansonsten lang finden.
So könnte es sein. Aber auch anders. Wenn mich, einen Nachmittag die Woche immerhin, einer aus jener Gruppe Freiwilliger abholt, mich auf seiner Rikscha vorne rechts (da sitz‘ ich immer) Platz nehmen lässt und mich, zusammen mit einer Gruppe Gleichgesinnter, ein bisschen ausfährt. An den See, in die Stadt, ins Café. Oder, meinetwegen, auf den Friedhof. Die Leute von «Radeln ohne Alter» wissen, was und wie es uns gefällt. Meine Liebste im Heim und ich werden des Abends dann zufrieden in unseren Ohrensesseln dösen, den Kopf gut durchlüftet, wir werden mit der Nachtschwester noch ein Schwätzchen halten und schmunzeln bei der Erinnerung daran, wie der junge Mann, der uns pedaliert hatte, lachen mussten, als wir ihm von unseren früheren Liebeleien erzählten.

So könnte es sein; wird es, genauer, denn diese Idee und solche Nachmittage sind bereits Wirklichkeit, in Kopenhagen genau (wen wunderts?), wo junge und nicht mehr so junge Menschen Alte und noch ältere Bewohner von Alters- und Pflegeheimen dazu einladen, auf Elektro-Rikschas «die Umgebung, in welcher sie ihr Leben lang gelebt haben, hautnah neu zu entdecken, dabei ihre Lebensgeschichten mit uns zu teilen und sich wieder als Teil der Gemeinschaft zu fühlen». So ist es auf der Website von «Radeln ohne Alter» Schweiz nachzulesen, denn es gibt jemanden, der dieses dänische Projekt auch hierzulande umsetzen will: Anina Flury. Die 27-jährige Bündnerin, Marketing- und Kommunikationsfachfrau, hat «Radeln ohne Alter» während eines beruflichen Abstechers nach Kopenhagen im vergangenen Jahr kennengelernt und sich begeistern lassen. Sie ist überzeugt, dass die Idee auch in der hügeligen Schweiz funktioniert: «Mit guter Routenwahl und dank Elektromotor ist das kein Problem», sagte sie gegenüber der «NZZ am Sonntag» vom 8. März dieses Jahres. Besagter Artikel habe bereits «einiges ins Rollen gebracht», erklärte Anina gegenüber velofahrer.ch.

Den Wind in den Haaren spüren

Der Mann, der den Anstoss zu «Radeln ohne Alter» gab (die Geschichte ist wunderbar hier beschrieben), heisst Ole Kassow. Die Menschen hätten doch das Recht, «auch im hohen Alter noch den Wind in den Haaren spüren zu können», meint er, zumal solche, die ihr Leben lang auf zwei Rädern unterwegs gewesen seien. Was ihn am meisten erstaunt habe, lesen wir auf radelnohnealter.ch, ist, Zitat, «wie einfach man mit einem Fahrradausflug einen tiefgreifenden, positiven Effekt auf die Lebensqualität von Menschen haben kann. Nicht nur für die älteren Leute, die aus ihrer sozialen Isolation ausbrechen können. Auch für die Freiwillige, die Freude verspüren, anderen – aber auch sich selbst – etwas Gutes tun zu können.» Das fasst die Sache schön zusammen – wer mehr wissen will, klicke sich durch die Website.

Der Velofahrer hat Anina Flury einige Fragen gestellt. Und freut sich, wenn ihre Initiative zum Erfolg führt. Bis in 38 Jahren, wenn ich 90 sein werde, dürfte bei so viel Power, der bei dieser Frau spürbar ist, dieses Angebot selbstverständlich sein…

[button link=“http://webpaper.nzz.ch/2015/03/22/international/M4JN9/radeln-ohne-alter-eine-daenische-idee-macht-schule?guest_pass=0402f780d4%3AM4JN9%3A41b2361a2fcb0edf797b674df69f64ca94791132″ color=“blue“ size=“large“]Hier gehts zum Artikel in der NZZ am Sonntag vom 8. März 2015[/button]

Wie kamst Du zu der Initiative «Radeln ohne Alter»?
Anina Flury: Das ist eine längere und vielleicht etwas ungewöhnliche Geschichte. Es war schon immer mein Traum, nach dem Master ein paar Jahre im Ausland zu leben und zu arbeiten. Im Frühling 2014 schloss ich meinen Master in Marketing, Kommunikation und Service Management an der Universität St. Gallen mit Zusatzausbildung in Wirtschaftspädagogik ab. Ich gab danach meinen Job als Markenstrategin bei MetaDesign, einer internationalen Markenagentur in Zürich, auf (ich hatte dort während des Masters Teilzeit gearbeitet), reiste zwei Monate durch Argentinien und Chile und zog im Juli nach Kopenhagen. Mein ehemaliger Chef hatte zwei Jahre dort gelebt, gearbeitet und immer von dieser Stadt geschwärmt…

…was Dich offenbar beeindruckt hat.
Genau. Ich zog ohne Aussichten auf einen Job nach Kopenhagen, wollte mich aber dort als Markenstrategin in Marken- und Werbeagenturen bewerben. Also kurvte ich eine Woche mit dem Velo durch die Stadt – und wurde das Gefühl nicht mehr los, dass sich diese Stadt so anders anfühlt als Zürich oder St. Gallen, wo ich mich die vergangenen sieben Jahre bewegt hatte. Kopenhagen wirkte viel zugänglicher und menschlicher auf mich.

Du hast in Kopenhagen das Velo entdeckt?
So ungefähr. Ich wollte wissen, weshalb sich diese Stadt so anders anfühlt. Bei meiner Recherche stiess ich auf Gehl Architects (www.gehlarchitects.com) und Copenhagenize Design Co. (www.copenhagenize.eu). Die Philosophie dieser zwei Unternehmen faszinierte und inspirierte mich. Mir war sofort klar, dass ich bei Copenhagenize Design Co. arbeiten möchte, einem Unternehmen, das sich auf urbanes Fahrradfahren spezialisiert hat. Ich bewarb mich und erhielt den Job. Manchmal muss man im Leben etwas wagen und neue, vielleicht etwas riskantere und ungewohntere Wege gehen, um Neues zu entdecken. Bei mir ging diese Strategie auf und ich kann sie nur jedem ans Herz legen. Es gibt so viele coole Jobs auf dieser Welt, von denen man gar nicht weiss, dass es sie überhaupt gibt.

Was auch auf «Radeln ohne Alter» zutrifft.
Richtig. Wie viele Unternehmen hat sich auch Copenhagenize Design Co. in einem Co-Working Space eingemietet. Dort lernte ich Ole Kassow kennen, den Gründer der Initiative «Radeln ohne Alter». Diese eroberte vom ersten Moment an mein Herz und ich fing an, mit Ole zusammenzuarbeiten. In der Zwischenzeit verschlug es meinen Freund wegen seines Jobs jedoch wieder in die Schweiz zurück, weshalb ich nun seit Anfang April ebenfalls wieder in Zürich lebe. Ich wäre gerne noch ein paar Jahre in Kopenhagen geblieben – aber was tut man nicht alles für die Liebe? Nun habe ich aber die Chance erhalten, weiter mit den beiden vorhin erwähnten Unternehmen zusammenzuarbeiten. So kann ich ein Stück Dänemark bzw. Kopenhagen in die Schweiz holen.

Kannst Du das erklären?
Ich bin als User Experience Consultant weiterhin für Copenhagenize Design Co. tätig. Wir beraten Städte auf der ganze Welt, wie sie das Velo im urbanen Raum als tägliches Transportmittel zurückbringen können. Wir wollen Velofahren in der Stadt wieder zum «Mainstream» machen, denn wir sind davon überzeugt, dass wir dadurch unsere Städte lebenswerter und zugänglicher machen können. Jeden Tag ziehen auf der ganzen Welt mehr Menschen in den städtischen Raum. Platzprobleme sind die Folge und Lösungen für die urbane Mobilität gefragt, denn diese definiert unsere Lebensqualität in den Städten entscheidend mit. Wir sind überzeugt, dass das Velo ein zentraler Bestandteil der zukünftigen, intermodalen Mobilität im urbanen Raum ist.

Wie überzeugt ihr die Menschen davon, vor allem die Entscheidungsträger?
Wir gehen unsere Projekte bedürfnisorientiert an, wobei wir den Menschen als Nutzer des urbanen Theaters ins Zentrum stellen. Dies tun wir mit einem interdisziplinären Ansatz. Wir sind ein Team von Anthropologen, Architekten, Stadtplanern, Mobilitätsexperten, Industrial Designern und User Experience Consultants, das gemeinsam auf eine Vision hinarbeitet: eine zugänglichere, lebenswertere Stadt.

Welches ist Deine Rolle darin?
Einerseits arbeite ich bei Copenhagenize Design Co. an internationalen Projekten mit unserem standortübergreifenden Team aus Brüssel, Amsterdam und Kopenhagen. Daneben baue ich das Schweizer Office auf und werde in Zukunft insbesondere Projekte im deutschsprachigen Europa akquirieren und leiten. Zu Beginn werde ich mich jedoch auf die Schweiz konzentrieren. «Radeln ohne Alter» ergänzt meine Tätigkeit bei Copenhagenize Design Co. schön.

Du willst «Radeln ohne Alter» in der Schweiz aufbauen. Wo?
Der Artikel in der «NZZ am Sonntag» vom 8. März hat einiges ins Rollen gebracht. Mein Vorhaben kommt offenbar an. Viele Privatpersonen, Unternehmen, Vereine, Organisationen, ein kantonales Gesundheitsamt und Journalisten kommen auf mich zu. Ich ziele nicht auf eine Stadt bzw. Dorf oder eine Region. Wie in Kopenhagen möchte ich die Initiative organisch wachsen lassen. Mich treibt es dort hin, wohin mich Unternehmen, Vereine, Organisationen, Privatpersonen, Alters- bzw. Pflegeheime usw. führen. Denn über den Erfolg der Initiative entscheidet, wie gut diese in einem Heim, Quartier, in einer Stadt oder einem Dorf verankert ist und gelebt wird. Es gibt nichts besseres, als Gleichgesinnte vor Ort zu haben, welche die Initiative bei sich mit aufbauen und leben möchten. Denn neben meiner eigenen Leidenschaft für «Radeln ohne Alter» ist diejenige der Menschen, Unternehmen, Organisationen und Heime von zentraler Bedeutung.

In Kopenhagen werden für «Radeln ohne Alter» Elektro-Rikschas eingesetzt. Solche sind auch für die Schweiz vorgesehen. Aber dürfen sie hier auch auf der Strasse fahren?
Heute wird die E-Rikscha für den Personentransport in der Schweiz noch zu den dreirädrigen Kleinmotorfahrzeugen gezählt, da es noch kein Gesetz gibt für Fahrräder mit drei Rädern, einem Elektromotor und drei Sitzplätzen. Dies hat zur Folge, dass man ziemlich viele Vorschriften in Bezug auf den Bau der Rikschas hat, die wir einsetzen wollen – Blinker, zusätzliche Handbremse, Bremslicht, Rückspiegel usw., – um die Zulassung für Schweizer Strassen zu bekommen. Für eine Homologation bzw. Typengenehmigung müsste man tief in den Geldbeutel greifen. Ab dem 1. Juni 2015 wird diese Gesetzeslücke jedoch mit einer neuen Verordnung geschlossen, was die Anforderungen an die E-Rikscha ein wenig senkt. Diese hat der Bundesrat am 15. April 2015 beschlossen. Nun gilt es die neuen Bestimmungen und Anforderungen abzuwarten, um dann die entsprechende Anpassungen an der Rikscha vorzunehmen.

Wo können sich Interessierte melden?
Alters- und Pflegeheime, Freiwillige, die Piloten/Captains (auf der Webseite wird erklärt, was wir darunter verstehen) werden wollen oder auch Vereine, Stiftungen, Organisationen und Unternehmen usw. können sich bei mir persönlich via E-Mail oder Telefon melden. Meine Kontaktdaten findet man auf der Webseite von «Radeln ohne Alter» Schweiz (www.radelnohnealter.ch). Man kann der Initiative auch via Facebook (www.facebook.com/radelnohnealter) und twitter (@RadelnOhneAlter) folgen.

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