Le vélo, oh là là, la liberté, l’amour…

wachsen_uns_fluegel_2In unserer Reihe «Preziosen für die Satteltasche» vermelden wir einen Neuzugang. Ein Büchelchen, das in des Radlers Reisegepäck gerne Aufnahme finden darf, trägt den schönen Titel: «Nun wachsen uns Flügel», ein «amouröser Roman», so der Untertitel, von Maurice Leblanc. Der gewichtsbeflissene Velocipedist wird denselben womöglich schon nach dem ersten lau-langen Leseabend am See nurmehr als Ballast empfinden, da er die Episode dann, zu später Stunde, bereits und in einem Zug sich zu Gemüte geführt haben wird. Der vorausschauende Randonneur hingeen wird sich vielmehr darauf freuen, den «Amourösen Roman», wie er im Untertitel heisst, gegen Ende seiner Tour abermals hervorkramen und seiner bis dahin eroberten Ferienliebe vorlesen zu dürfen.

Oder der eingewechselten. Denn darum geht es, in Kürze, in dem Roman (Romänchen): Zwei Eheaare begeben sich auf Tour, von Paris (vermutlich) bis ins nordfranzösische Dieppe, sie pedalen sich frei dabei und tauschen am Ende die Schlafgemächer kreuzweise. Kompliziert? Keineswegs.  Guillaume d’Arjols et sa femme Madeleine, Pascal Fauvières et son épouse Régine brechen in dieser Zusammensetzung auf, um 150 Seiten später als Guillaume et Régine sowie Pascal et Madeleine voneinander zu scheiden.

Vom Schöpfer des Meistergauners

wachsen_uns_fluegel_1«Nun wachsen uns Flügel» ist eine Neuauflage des 1898 unter dem französischen Originaltitel erschienenen Romans «Voici des ailes!» Sein Autor, Maurice Leblanc (1864-1941) ist der geneigten Leserin, dem geneigten Leser, wohl eher bekannt als Schöpfer des Meistergauners Arsène Lupin. Die veloverliebte Verlag Maxi Kutschers hat die Geschichte wieder entdeckt und bringt sie in ihrem Verlag als Maurice Leblanc – Nun wachsen uns Flügel in ihrer neuen Reihe «Velothek» heraus. Betreut wird die Sammlung, die noch kräftig anwachsen möge, vom ebenso fahrradbegeisterten Professor Elmar Schenkel von der Universität Leipzig, der auch das Nachwort liefert. Hervorzuheben ist ferner die gediegene Aufmachung dieses Erstlings, den eine Reihe der Originalausgabe entnommene Holzschnitte zieren.

Das einfache, aber liebreizende Geschehen schildert Leblanc mit derartiger Leichtfüssigkeit, stilistischer Eleganz und feinen Bildern (*), dass man am liebsten selbst als stiller Beobachter mit den beiden Paaren auf die Reise gehen möchte. Der ebenso literaturbeflissene wie velo-überzeugte Leser weiss am Ende freilich nicht, soll er sich mehr an den Erörterungen seiner Protagonisten zur Liebe ergötzen oder an denselben von Monsieur Pascal zu den Vorteilen des Velocipeds. Am Ende verbindet sich Beides aufs beste, wobei die Aussagen hinsichtlich des Fahrrads als Verkehrsmittel von zeitloser Gültigkeit sind; ein Attribut, das, als Klammerbemerkung, auf das Automobil zweifellos nicht (mehr) zuträfe, wären die vier Romanhelden damit unterwegs gewesen.

Die Schönheit des Fahrrads

Eine Auswahl dieser Aussagen zum Fahrrad darf man sich gerne ins Notizheft schreiben zwecks späterer Verwendung in Leserbriefen, Facebook-Kommentaren (welch unpassender Anglizismus in diesem Zusammenhang) oder für gescheite Diskussionen in abendlicher Runde. Meine diesbezüglichen Vorschläge sind:

  • «Was die Schönheit des Fahrrades ausmacht, ist seine aufrichtige Offenheit. Es verbirgt nichts. Seine Bewegungen sind klar zu erkennen, bei ihm sieht und begreift man die Kraftentfaltung, es gibt seine Absicht bekannt, es sagt, dass es sich schnell, geräuschlos und leicht bewegen will. Warum ist das Automobil so abstossend hässlich und flösst uns ein Gefühl des Unbehagens ein? Das kommt daher, weil es seine Organe wie einen Schandfleck verbirgt. Man weiss nicht, was es will. Es wirkt unausgereift. Man erwartet noch etwas. Nicht zum Vorankommen, sondern zum Schleppen scheint es geschaffen zu sein.» (S. 17)
  • «Oh, was für ein schönes, von Zufall und Unvorhergesehenem bestimmtes Leben! Ein so reines und so unbekanntes schönes Leben! Es wird aufregend zu leben. Oh, wie gut es tut, glücklich zu sein, einfach nur, weil man lebt! (…) Und das verdanken wir ihm, diesem kleinen Ding aus Stahl. Erweisen wir ihm unsere Anerkennung. Ich beginne zu ahnen, welch einen Reichtum an Freude und Wohltat es in sich birgt.» (S. 45)
  • Mit Bezug auf den menschlichen Körper: «Das Fahrrad ist eine Vervollkommnung seines Körpers selbst, seine Vollendung, könnte man sagen. Was ihm da geboten wird, ist ein schnelleres Paar Beine.» (S. 53/54)
  • «Zudem gibt es nichts, bei dem das erzielte Ergebnis noch genauer dem gegebenen Kraftaufwand entspräche. Man hat Freude daran, mit der erreichten Geschwindigkeit und den gewonnenen Eindrücken ein Äquivalent dafür zu schaffen, was man an Energie und Hoffnungen hineingesteckt hat. Man kommt voran, weil man kraftvoll und gelenkig ist, und man bekommt schöne Dinge zu sehen, weil man imstande ist, sie aufzusuchen.» (S. 64)

Die grosse Befreierin

  • wachsen_uns_fluegel_3«Das Fahrrad ist die neue Freundin, welche das Schicksal dem Menschen nun gewährt. Aus seinen gesprengten Ketten geschaffen, ist diese Maschine eine getreue und mächtige Verbündete, welche er gegen seine ärgsten Feinde einsetzen kann. Das Fahrrad ist stärker als der Trübsinn, stärker als der Überdruss. Es ist stark wie die Hoffnung. Es beschränkt die Sorgen auf ihre tatsächliche Bedeutung. Es entrückt uns der Vergangenheit, es lehrt uns, in der Gegenwart zu leben und der Zukunft entgegenzuschreiten. Diese Maschine ist eine grosse Befreierin.» (S. 141)
  • «Das Fahrrad hingegen ist lautlos, es bewegt sich in der Stille, es ist die Freundin der Stille, und auf diese Weise bewahrt es etwas Geheimnisvolles, vom dem wir uns unsererseits durchdrungen fühlen… Sich mit ihm fortzubewegen heisst, unaufhörlich in ein unergründliches Geheimnis einzudringen.» (S. 143)

(*) Ach herrjeh, diese Schwelgerei! Madame Madeleine tunkt auf Seite 100 nicht etwa ihre Füsse ins Wasser. Vielmehr «bot sie dem Wasser ihre Beine dar.» Und die Verliebten können angesichts ihrer aufflammenden Gefühle sogar dem Gegenwind Gutes abgewinnen: «Der Luftwiderstand verschaffte ihnen die Illusion, dass es etwas gab, was ihnen entgegenkam und sich zärtlich gegen ihre Brust schmiegte.» (S. 82)

Und dann noch dies – so ging man im ausgehenden 19. Jahrhundert auf Tour:«Jede der Damen hatte den Ehemann ihrer Freundin als dienstbeflissenen Begleiter zur Seite, als Mechaniker für das Nachstellen und Reinigen der Maschine, als Handlanger, um ihr das Fahrrad an den Steigungen zu schieben, als Diener, um den Mantel und das Toilettennecessaire für sie mitzuführen.» (S. 38) Das täte meiner Angetrauten bestimmt gefallen!

[blue_box]Maurice Leblanc: Nun wachsen uns Flügel. Amouröser Roman; Herausgeber: Elmar Schenkel, 2015, Verlag Maxi Kutschera, www.maxime-verlag.de, ISBN 978-3-931965-54-9, CHF 24.90. Die französische Originalausgabe erschien 1898 unter dem Titel «Voici des ailes!» beim Verlag Paul Ollendorf in Paris.[/blue_box]

 

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