Damals, mit den Kindern der Aare entlang, der Donau, an der Nordsee, durchs Inntal und entlang der mecklenburgischen Seen; zu zweit später durch Dänemark, bei den Ostfriesen und auf der holländischen Insel Vlieland, auf dem Fünf-Flüsse-Radweg in Bayern, im Burgund, an Schwedens Südküste und diesen Sommer im französischen Jura: Viele Wochen mittlerweile, die wir auf und mit dem Velo verbracht haben, und von jeder, fast jeder, weiss ich, welchen Tag wir welche Strecke pedaliert, was wir dabei besonderes erlebt und wo genächtigt haben.
Wenig unternehmen, viel erleben
Warum mir all dies bleibt? Es ist eine Frage der Geschwindigkeit: Im Sattel erfahren wir Land und Leben kleinräumig und gemächlich. Unsere Sinne werden nicht überfordert, sondern vielmehr zu aufmerksamen Reisebegleitern: Ich rieche das sonnengedörrte Heu, ich erspähe die Brombeeren in der Hecke am Wegrand, und der farbenprächtige Schmetterling, der sich auf dieser Blume sonnt, entgeht meinem Auge nicht. Wir halten nicht dort an, wo wir parkieren können, sondern es uns gefällt, und lassen uns dabei immer mal wieder in Plaudereien und Gespräche verwickeln.
Wir erleben viel, weil wir wenig unternehmen. Wir sammeln unauslöschliche Erinnerungen, die wir gerade zur Sommerszeit, wenn wir wiederum unterwegs sind, gerne hervorkramen, aber auch am Familientisch immer wieder zu erzählen geben.
Fliegen wäre zu einfach
Der Inder Pikay fuhr 1977 der Liebe wegen mit dem Velo von Indien nach Schweden, worüber Per Andersson ein Buch geschrieben hat, das diesen Sommer eine meiner Ferienlektüren war. Darin lese ich: Pikay «hat seinen Schlafsack und sein Fahrrad. Es wird schon gut gehen. […] Ausserdem möchte er, dass die Reise hart wird. Die Erschöpfung auf dem Fahrradsattel, die Müdigkeit, die ihn jeden Nachmittag heimsucht, und die Freude darüber, in der Abenddämmerung etwas Essen und Wasser und ein Flechtbett zu haben, auf dem er seine schmerzenden Beine ausstrecken kann, lenken ihn ab und halten Zweifel und Heimweh fern. Den ganzen Weg zu fliegen würde nicht nur zu viel kosten, viel mehr, als er überhaupt hat, sondern es wäre auch zu einfach. So reisen die reichen Leute, aber nicht er, nicht ein richtiger Reisender. Bisher hat er die Widerstände überwunden. Er denkt an Alexander den Grossen, der mit dem Schwert in der Hand den gleichen Weg gegangen ist, wenn auch in die andere Richtung.»
Jurastrassen sind selten flach
Nun, wir haben weder Pikays Wagemut noch Alexanders Grösse, können aber zwischen solchen Zeilen lesen. In den vergangenen zwei Wochen haben wir diesbezüglich unsere Sammlung an Erinnerungen erweitert. Wir waren diesmal fest stationiert, in der Franche-Comté, im französischen Jura in der grossen Doubs-Schleife. Hier hat Peter Wyssling auf dem Hof Kamo ein zauberhaftes Refugium geschaffen, auf dem eines der selbstgebauten Häuschen für eine Weile unser Daheim war. Die Velos waren hier vonnöten, um die fünf Kilometer ins Dorf zurückzulegen und das – siehe oben – passende Verkehrsmittel, um die nähere Umgebung zu erfahren. Was einerseits schweisstreibend war, denn die Strassen im Jura sind selten flach, aber auch überaus abwechslungsreich, wenn wir auf verschlungenen Wegen die grünen Täler des Dessoubre, der Loue oder des Cusancin erkundeten – kaum je von einem Auto überholt.
«Radfahren ist konkret»
«Radfahren ist konkret und unproblematisch», schreibt Bert Wagendorp in seinem Roman «Ventoux», der zweiten (empfehlenswerten) Ferienlektüre: «Ein Fahrrad, eine Strasse, ein Mensch: Einfacher geht es nicht. Beim Radfahren ist erst einmal nur die äusserste Schicht des Geistes gefordert, Introspektion ist nicht unbedingt notwendig. Manchmal befördert die Erschöpfung Bilder an die Oberfläche, von denen man nicht mehr gewusst hatte, dass man sie in sich herumträgt, die man aber immer noch als Halluzinationen abtun kann.»
Ganz so erschöpft waren wir des Abends freilich nicht, doch das mit den Bildern, das stimmt schon: Fahrend wird mitunter lebendig, woran man sich nicht mehr zu erinnern glaubte. Wir weben den Stoff fortwährend neu. Das Velo ist unser Perpetuum mobile.
P.S.: Dritte Ferienlektüre war Carlos Ruiz Zafóns «Labyrinth der Lichter» der vierte Band aus der Barcelona-Reihe des spanischen Autors. Darin lässt Zafón auf Seite 620 die Romanfigur Fermín feststellen: «Auferstehen ist ein wenig wie Radfahren oder einem jungen Mädchen den Büstenhalter mit einer Hand öffnen. Man muss nur den Dreh raushaben.»
1 Kommentar
wunderbar, Dominik ! Soeben entdeckt !
immer grüße von
kamo / peter