Velogondler, Velogeniesser, Velofräser, Velofahrer

Ich bin velophil. Und online derzeit aber velowenig. Die 1000 Kilometer «Bike to work» die vergangenen zwei Monate pedalten sich nebenher, ans Schreiben übers Velo war nebenher freilich nicht zu denken. Ans Lesen hingegen immer wieder, und diesbezüglich sind mir vier Beiträge untergekommen, die für die Unterschiedlichkeit stehen, mit welcher die Velofahrerei betrieben werden kann: Stoff für eine Zitatenlese und eine Erörterung unter Gleichgesinnten über Un-, Sinn und Wahnsinn im Sattel.

Der Reihe nach:

1. Fünf Polstersitze statt ein Sattel

«Warum verspüren wir eigentlich so wenig Verantwortung während unseres Handelns?», fragt der Wiener Journalist und Mediendesigner Reinhold Seitl in einer Kolumne im österreichischen Fahrradmagazin «Drahtesel»? Dass der Mensch ein vernunftgesteuertes Wesen sei, hält er für «eine grenzwertige Idee». Was für ihn in Bezug auf die Mobilität heisst: «Statt dessen führen weltweit hunderte Millionen Humanoide jeder für sich eine fünfsitzige Polstergarnitur spazieren, obwohl sie immer nur auf ein- und demselben Platz sitzen. Und das mithilfe einer Maschine, die zwanzig Mal schwerer ist als der sitzende Nacktaffe selbst.» Und, also ob dies nicht schon klar genug wäre: «Diese Maschine, die Geschwindigkeit und Reichweite des Menschen verhundertfacht, ‹atmet› ihm auch jede Menge Atemluft weg, heizt das Klima auf und vergiftet die Umgebung. Jährlich tötet diese Maschine – wie die WHO feststell – mehr als eine Million seiner Art und hinterlässt ein Vielfaches davon an Dauerinvaliden.»

2. Mit Sonnenkraft bis nach China

Den Emmentaler Daniel Jenni mit seinem Solarvelo trafen wir jüngst auf Durchreise in meinem Wohnort Hochdorf, wo seine Freundin lebt. Der 30-Jährige, Sohn des Schweizer Solarpioniers und Miterfinders der Tour de Sol-Miterfinders Erwin Jenni, ist derzeit auf der Selbstversorger-Tour «The Sun Trip 2018» unterwegs, die über rund 12’000 Kilometer von Lyon nach Guangzhou in China führt. Sein. Ziel der 40 Teilnehmenden ist es, nur mit Muskel- und Sonnenkraft an die chinesische Küste zu gelangen – und das in 100 Tagen. Jenni fährt auf einem umgebauten Speedped, das er mit einem Solardach versehen hat. Um Tempo Teufel geht es ihm nicht. Gegenüber der Lokalzeitung «Seetaler Bote» sagte er: «Es ist vor allem Abenteuerlust, die mich antreibt. Unter den Teilnehmern hat es auch ambitionierte Sportler, welche die Strecke möglichst schnell zurücklegen wollen. Zu denen gehöre ich nicht – ich will die Reise geniessen und mir auch Sachen anschauen.» Und weiter: «Idealismus ist auch dabei. Ich will zeigen, was mit -Solarkraft möglich ist.» Daniel Jennis Trip kann auf www.thesuntrip.com live mitverfolgt werden.

Mit Sonnen- und Pedalkraft unterwegs: Daniel Jenni bei seinem Zwischenhalt in Hochdorf. | © 2018 Annemarie Thali

3. Wo jede Minute zählt

100 Tage für 12’000 Kilometer? Dem Österreicher Extrem-Radler Michael Strasser wär‘ das entschieden zu gemütlich. Sein Ziel ist es, vom nördlichsten Punkt der USA bis ganz in den Süden Amerikas nach Patagonien zu pedalieren – 23’000 Kilometer am Stück. Strassers Ziel ist es, den Rekord des Briten Dean Stott zu brechen, der dafür 99 Tage brauchte. Strasser hatte es schon 2016 eilig, als er es in 34 Tagen von Kairo an die Südspitze Afrikas schaffte – 11’000 Kilometer. Der Mann ist ein Tempogetriebener: «Während  ‹Ice2Ice› werden mich zwei Tour-Autos – ein Camper und ein Pkw – begleiten. Das grössere Team bedeutet auch, dass wir die Abläufe besser planen müssen: Duschen, WC-Pausen, An- und Umziehen, Schlafen, Aufwachen und natürlich die Ernährung müssen optimal abgestimmt sein. Keine Minute darf verloren gehen», erklärt er im «Drahtesel».

Auf seiner Website schreibt Sponsor Red Bull über Strasser, dieser fahre «auf zwei Rädern durch die Welt, um der Monotonie zu entkommen». Welche Monotonie er wohl meint? Und welche Vielfalt er – im Gegenzug – er erlebt, auf zwei Rädern durch die Welt fräsend? Der gute Mann hat in Physik offensichtlich nicht aufgepasst in der Schule. Denn: Je schneller er durch die Lande fräst, desto monotoner, einförmiger, zieht doch die Landschaft an ihm vorüber.

Mir erginge es jedenfalls umgekehrt. Ansonsten: Der Bericht über Strasser Projekt «Ice2Ice» liegt der Kolumne des oben erwähnten Reinhold Seitl – Stichwort Vernunft – auf derselben Doppelseite des «Drahtesels» genau gegenüber.

4. Das Fahrrad – am Stau vorbei an die frische Luft

Mit Strasser nichts gemein ausser das Fortbewegungsmittel selbst hat auch der Journalist und Fotograf Hannes Leitlein aus Berlin. Der stellvertretende Redaktionsleiter der Beilage «Christ und Welt» der «Zeit» in Hamburg bekennt sich in der Nr. 26/2018 als betender Radfahrer. Als radfahrender Beter. Als beides. Seinen Text «Radfahren ist mein Gebet» könnte man sich, kleingefaltet, als Argumentarium dafür in den Geldbeutel stecken, weshalb man (vgl. Punkt 1) im Verkehr lieber auf einem Sattel sitzt statt auf einem von fünf Polstersesseln. Zitat:

«Denn kein Sportwagen der Welt kann dieses Gefühl ersetzen, das sich beim Radfahren einstellt, wenn das Rad richtig eingestellt ist: diese vollkommene Symbiose zwischen Gefährt und Fahrer, die direkte Übersetzung von Muskelkraft in Geschwindigkeit, das Cabriogefühl nicht nur am Kopf, sondern am ganzen Körper, diese Verschmelzung von Mensch und Maschine, die nur durch einen Herzschrittmacher getoppt wird. Das Fahrrad bringt mich ohne Tanken überallhin, vor allem aber bringt es mich im Alltag am Stau vorbei und an die frische Luft.»

Nachsatz: Gerne (sehr gerne) Velo zu fahren heisst nicht, Autos nicht zu mögen. Wer Gegenspielerei hinter Leitleins Ode und deren Zitierung hier vermutet, treibt ebendiese bloss an. «Es ist ja nicht so, dass ich nicht selbst gern Auto fahre», schreibt Leitlein. Aber mehr als eine Tonne Material, um 100 Kilo in Bewegung zu versetzen, sind grundsätzlich nicht vernunftgesteuertes Tun. Bliebe es bei den Ausnahmen, die dazu berechtigen, löste dies jeglichen Verkehrstau.

 

 

 

 

 

 

Welche Auffassung entspricht der euren?

Teile diesen Beitrag

1 Kommentar

Es gibt auch noch die, die aus Not leidenschaftlich gerne Velo fahren: Auto zu teuer (und oft auch zu blöd), ÖV zu langsam und zu umständlich (ausser für weite Distanzen), zu Fuss zu beschwerlich.
Bleibt also nur das Velo. Aber das – wie gesagt – mit Leidenschaft.

Antworten auf Dave Antwort abbrechen