Das Leben, die Liebe, dieses Velo

Rosmarie Schürch aus Hochdorf und ihr Dreigänger – Etappenorte auf einer Lebensfahrt. Der nachfolgende Text ist für die «Seetaler Brattig» entstanden, den volkskundlichen Jahreskalender für das Luzerner Seetal, den ich im Nebenamt redigiere.

Am 14. April 2018, der Morgen war sonnig, schob Rosmarie Schürch, Jahrgang 1934, ihren Dreigänger, Jahrgang 1954, an die Hofderer Velobörse und liess diesen mit 50 Franken anschreiben. Für diese Relikt werde sich zweifelsfrei eine Käuferschaft finden lassen, versicherte man ihr, zumal mit diesen Satteltaschen aus Segeltuch, lederberiemt; doch dem Markt war nicht danach, das rote «Rondo» sei niemandes Geld wert gewesen heute, beschied man Frau Schürch am Nachmittag.

Halb vier war es da und Verkaufsschluss. Doch nicht das Ende der Geschichte.

Frau Schürch erzählt daraus Monate später am Stubentisch. Es habe ihr schon e Gingg gäh, als ihr Velo noch allein auf dem Platz gestanden sei, sagt sie. «Es ist mir doch so lieb gewesen.»

Der Dreigänger muss sich gegen seinen Verkauf gesträubt haben. Fünfzig Franken für ein Leben, aus dem es so viel zu erzählen gibt? Geschichte und Geschichten; im Fahrtenbuch der Tour de Schürch sind sie aufgeschrieben. Wir blättern darin bei Kaffee und Kuchen, das Stündchen verspricht heiter zu werden, wie sich schon auf der ersten Seite erweist.

Mit am Tisch sitzt Herr Schürch, Heinz, Jahrgang 1924, seit 62 Jahren verheiratet, gewesener Fotograf, die Dutzende Alben auf den Büchergestellen zeugen davon. Heinz Schürch schlägt eines auf und zeigt auf ein Bild, Rosmarie, ledige Gurtner, wie diese kurzbehost neben dem neuen Dreigänger steht; was Wunder, hatte Herr Schürch schon Jahre zuvor um dieses elegante Fräulein geworben.

Rosmarie Schürch lacht, damit hebt das Erzählen an, da habe es doch, «das ist mir jetzt grad in den Sinn gekommen», z Baubu diesen Rast Martin gegeben, Gramper, der habe ihr Jahre später einmal erzählt, immer wenn sie, die Rosmarie also, in die Schule gegangen sei, hätten sie alle aufhören und schauen müssen; Frau Schürch lacht wie eine junge Frau und schenkt Kaffee nach.

«Sehr kommod»

Dieses Velo. «Das war einfach gäbig damals», erinnert sie sich, man fuhr damit in die Kirchenchor-Probe, in die Zwingliana-Jugendgruppe, «das war mit dem Velo schon sehr kommod», sagt Frau Schürch, kommod, was auf ihre Berner Wurzeln hinweist; kommod war es also, ein Velo für die paar Kilometer von Baubu nach Hofdere zu haben, denn Gurtners sind reformiert und der Kirchgang führte also über die Wirtlen. Was der Liebe zuträglich war, denn reformierten Glaubens sind auch die Schürchs, einst aus dem Aargau ins katholische Luzern zugewandert, und als Herr Schürch, Fotograf wie der Vater, damals beauftragt war, das Konfirmationsbild von Rosmaries Jahrgang zu machen, war die Verbindung schon bald offiziell. «Er fragte mich, ob ich am Ostermontag auf den Ausflug der Zwingliana mitkommen wolle», erzählt Frau Schürch, «ich rannte und fragte Mueti, darf ich, und ich durfte, weil ich ja nun konfirmiert war und von da an durfte ich alles.» Wieder lacht Frau Schürch, es schmunzelt Herr Schürch, dann lachen beide, wie sie erzählt, dass damals die Mütter der heiratsfähigen Söhne in Ballwil aufgeatmet hätten, als sie vergeben gewesen sei. «Die hatten schon befürchtet, es gebe eine Mischehe. Das war damals scho no es Züüg

Fräulein Rosmarie und ihre Verehrer

Du meine Güte. Dabei kannte Heinz Schürch Fräulein Gurtner schon seit deren fünfter Klasse. Sein Vater hatte Rosmarie als Elfjährige um ein Porträt gebeten, als diese sich vor seinem Schaufenster in Hochdorf eines Tages die Nase plattdrückte. Die Schwarzweiss-Aufnahme, sorgfältig auf eine Albumseite vergrössert, zeigt ein verträumtes Kind, das innert zehn Jahren zu jener jungen Dame mit dem Fahrrad heranwachsen sollte. Woraus man schlussfolgert, die Befürchtung der Baubeler Mütterschaft müsse Hand und Fuss und Fräulein Rosmarie in jungen Jahren eine Menge Verehrer gehabt haben.

Nun, um auf das Fahrrad zurückzukommen, dieses hat gewiss die Verbindung von Herrn und Frau Schürch befördert; die beiden aber im Leben überhaupt vorwärts gebracht. Heinz Schürch zum Beispiel, man glaubt es kaum, beförderte seine fotografische Ausrüstung zeitlebens auf dem Gepäckträger. Autofahren lernten weder er noch seine Frau; Wohnung und Atelier an der Bellevuestrasse lagen nahe beisammen, da musste man sich gar nicht motorisieren; ihr verlangte nie nach einem neuen Velo. «Ich brauchte nicht einmal mein altes, weil ich ja die Chenderscheese hatte, und wenn man fünf Kinder hat, dauert das eine Weile», erzählt Frau Schürch. Erst als die Familie 1984 ins Eigenheim an die Moosstrasse 21 zog, da sei es «mit dem Velo wieder ganz kommod» gewesen.

Ein Zimmer beim Zuger Stadtrat Jost

Mit dem roten Rondo, das sie 1954, wobei sie sich dieses Jahres nicht ganz sicher ist, mit dem Vater in Eschenbach gekauft hatte. Im Nachbardorf, wohl weil dieser wohl einen Kunden habe berücksichtigen müssen, vielleicht auch einen Sängerkameraden, kann auch sein. Vater Gurtner war 1944 mit seiner Familie von Escholzmatt nach Baubu gezogen, die CKW hatte ihn zum neuen Kreismonteur gewählt. Rosmarie, ältestes von vier Geschwistern, schloss die Verkaufslehre im Dorf bei Lebensmittelhändler Ruedi Brun mit der Note 1.1 ab, wechselte dann nach Emmenbrücke in ein Comestibles-Geschäft, wohin sie auch mit dem Velo pendelte. «Es gab ja noch nicht so viele Züge, und ich musste früh los.» In Zug brachte sie es zur Filialleiterin beim Konsum, nahm ein Zimmer bei Stadtrat Jost, wiewohl «die Bekanntschaft mit Heinz» damals schon bestand, doch am Wochenende wars ja nicht weit ins Seetal.

In die Badi – aber nicht nach Baldegg

Von hier aus unternahmen die zwei dieses und jenes Fährtchen mit dem Velo. In die Badi zum Beispiel. «Aber nicht öppe nach Baldegg, dort wars ja noch nach Geschlechtern getrennt, sondern in die Seerose am Hallwilersee», sagt Frau Schürch. Im protestantischen Aargau war man diesbezüglich freier. Einmal liess das junge Paar seine Velos mit der Bahn nach Engelberg spedieren und reiste ins Urnerland, um von Altdorf her über den Surenenpass nach Engelberg zu wandern. «Aber ich war halt scho chli agfrässe», erinnert sich Herr Schürch. «Und in Luzern kam auch grad die Tour de Suisse vorbei.» Ein anderes Mal pedalten die Schürchs per Tandem nach Lungern, wo man oft die Ferien verbrachte, weil die CKW dort ein Ferienhaus vermieteten. Das Bild aus dem Familienalbum zeigt die zwei bei einer Reparatur. Das Tandem war übrigens eine Leihgabe des legendären Hofderer Mechaniker, Zweiradhändlers und Fahrlehrers Franz Hofstetter.

Sein eigenes Velo hatte Heinz Schürch seinerzeit von seinem Vater Alfred erhalten, der ihm dieses schenkte, als er, der Sohn, 1948 aus dem Toggenburg zurück nach Hochdorf kam. Fürs Geschäft. Alfred Schürch hatte dieses 1921 gegründet, 1971 übernahmen es Sohn und Schwiegertochter käuflich und führten es noch bis 2002 weiter. Rieder und Schürch: Das waren über Jahrzehnte die beiden Fotogeschäfte im Amtshauptort. Die katholischen Rieders engagierte man, unter anderem, am Weissen Sonntag, die protestantischen Schürchs erhielten dagegen, zum Beispiel, Aufträge von der Kleiderfabrik Brunex. «Weil wir Sprachen konnten», erklärt Herr Schürch, und man sich auch mit den Italienermeitli und welschen Frauen verständigen konnten. Rosmarie Schürch, ledige Gurtner, hatte ein Welschlandjahr in einem Haushalt in La-Chaux-de-Fonds verbracht.

«Das Velo hält einen beweglich»

Ein gefragter Fotograf war Herr Schürch auch an Hochzeiten, was siehe oben, ganz gut ohne Auto ging. «Ich liess mich einfach mitnehmen», erklärt er. «Und war an den Festen halt mit dabei.» Festzuhalten ist, dass Schürchs sich nicht etwa aus politischen oder Umweltgründen aufs Velo beschränkten; nein; «wir kamen einfach auch ohne Auto gut durchs Leben», sagt Rosmarie Schürch. Bis 75, «mindestens», trat sie in die Pedale, «das Velo hält einen ja beweglich und ist gut für das Gleichgewicht», nach und nach habe sie sich aber nicht mehr getraut, denn es könne einem «plötzlich Sturm werden». Zur Chorprobe des Seniorentreffs gehts ja gut auch zu Fuss, jeden zweiten Montag Nachmittag im Pfarreizentrum. Frau Schürch dirigiert, «wir haben 172 Lieder im Repertoire», wirft sie ein, und eigentlich hätte man fragen müssen, ob «Mer send met em Velo da» mit dazu gehört.

Herr Schürch hört zu und schmunzelt; er würde wohl am liebsten nochmals in den Sattel steigen. Dabei endet seine Tour schon öppe zehn Jahre zuvor. Anders als bei Frau Schürch fand sein Velo, das seinerzeit vom Vater geschenkte, an der Börse eine Käuferschaft. «Für 35 Franken», erinnert sich Herr Schürch. Und schiebt nach: «Das reut mich eigentlich noch heute.»

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1 Kommentar

Danke für die schöne Geschichte, die ich mit Vergnügen gelesen habe. So ein Velo hält ewig, genau wie die Verbindung dieses Paares. Einfach, einfache Dinge.

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