Leo Amberg: der schnellste Ballwiler auf zwei Rädern

Vor 86 Jahren stieg ein Mann aus dem kleinen Dorf Ballwil im Luzerner Seetal zu einem Sportidol auf. Leo Amberg gehörte mit Hugo Koblet und Ferdy Kübler er zu den Grossen des frühen Schweizer Radsports. Seine Spuren führen zu Online-Börsen, Lambrettas und einer eigenen Velomarke.

Von Jonathan Furrer; der Beitrag erschien zuerst am 8. April 2021 im «Seetaler Bote»

Kriegsflüchtling, Schweizer Meister, Fahrradproduzent, Fabrikbesitzer, Barbetreiber, Autohändler, Maler – alleine schon die (unvollständige) Liste von Leo Ambergs Titeln, Rollen und Berufen lohnt den Blick auf den berühmtesten Seetaler seiner Zeit. Die Region prägte das Leben des jungen Amberg; er wuchs in Ballwil auf, besuchte die Sekundarschule in Eschenbach und absolvierte die Lehre in Hochdorf. Am 23. März hätte er seinen 109. Geburtstag feiern können. Zusammen mit Hugo Koblet (1925–1964) und Ferdy Kübler (1919–2016) gehört er zu den Grossen des frühen Schweizer Radsports.

Was bleibt 22 Jahre nach Ambergs Tod vom ehemaligen Sportidol? Die Recherche beginnt im Internet. Doch die Suchanfrage «Rad + Leo Amberg» fördert ausser ein paar Einträgen auf Wikipedia mit Eckdaten aus Ambergs Leben wenig zu Tage. Also ab ins reale Leben: Fahrt auf einen Bauernhof, hinab in Zeitungsarchive sowie Amtsstuben-Keller und Griff zum Telefonhörer.

Die Leidenschaft Velo verbindet sie

Wer etwas über Ballwil und dessen Dorfgeschichte erfahren will, wende sich am besten an Walter Bühlmann. Das sagen zumindest der ehemalige Gemeindepräsident Hans Moos und der aktuelle Benno Büeler. Bühlmann selbst sagt bescheiden, er habe sich einfach immer für Geschichte interessiert, daher sein historisches Wissen. In den vergangenen Jahren schrieb Bühlmann mehrere Porträts über ältere Ballwiler für die «Seetaler Brattig». 2013 erscheint in diesem volkskundlichen Jahreskalender sein Artikel über Leo Amberg.

Amberg und Bühlmann verbindet eine grosse Leidenschaft: das Velo

Das Leben des bald 80-jährigen Walter Bühlmann ist so etwas wie die Antithese zur schillernden und unsteten Biografie Ambergs. Beständigkeit begleitet Bühlmann seit seiner Geburt 1942 im Ballwiler Ortsteil Gibelflüh. Hier blieb er bis heute wohnen, hier verdiente er seinen Lebensunterhalt als Landwirt. Trotzdem, oder gerade deshalb, ist Bühlmann ein vielseitig interessierter Zeitgenosse, der nicht nur über Ballwil, seine Einwohner und Geschichte Bescheid weiss. Er reiste auch mehrfach in die USA, wo er seine Brüder besuchte. So grundverschieden die Lebensentwürfe der beiden Männer, die sich nie persönlich begegneten, Amberg und Bühlmann verbindet eine grosse Leidenschaft: das Velo.

Walter Bühlmann legt Briefe, Fotografien, handschriftliche Notizen und einen Ordner auf den Stubentisch. In seinen Artikeln und im Verlauf seiner Recherchen über das Leben Leo Ambergs hat Bühlmann viel Material gesammelt und darin noch mehr Zeit investiert. Bühlmann beugt sich über die Dokumente, zeigt auf Gebäude auf schwarzweissen Fotos, beschreibt die abgebildeten Szenen, erklärt, wer die von ihm feinsäuberlich aufgelisteten Personen auf dem A4-Blatt sind und wie sie in das Leben Leo Ambergs passen. Doch nur ein Teil von Bühlmanns Wissen über den Radrennfahrer stammt aus Zeitungsarchiven oder neuerlich erforschten Auskünften. Die meisten Geschichten über Amberg kennt Bühlmann seit Jahrzehnten – dieser begleitet Walter Bühlmann seit dessen Kindheit.

Im Dorf spricht man viel vom berühmten Radrennfahrer, wusste Walter, als er auf dem Schulweg auf dem Velo täglich am Hof «Brand» vorbeifuhr: Hier war Leo Amberg aufgewachsen. Walter war fünf Jahre alt, als Amberg seine Profikarriere beendete, so erlebte Bühlmann die Erfolge des berühmten Sohnes des Dorfes nicht mit. Er sass nie zusammen mit den anderen Baubeler Buben vor einem Radio und lauschte Übertragungen von der Tour de France, fieberte bei keiner Etappe mit, bejubelte keinen der zwei Schweizer-Meister-Titel Ambergs.

Die Geschichten dieses unglaublichen Ambergs verfolgten Walter Bühlmann bis in die Kirche. Den Namen des Radrennfahrers hatte ein Fan während einer wohl nicht allzu spannenden Predigt in Grossbuchstaben in die Holzbank geritzt. Amberg musste ein Fahrradgott gewesen sein.

«Die harte Hand» des Vaters

Die Lebensgeschichte Leo Ambergs lässt sich nicht mehr vollständig rekonstruieren. Vor allem die Spuren neben der Strasse bleiben Stückwerk, Gründe für Betriebsgründungen oder Ursachen für deren Aufgabe bleiben im Dunkeln.

Amberg wird 1912 als zweites Kind eines Schweizers in Mülhausen im Elsass geboren. Infolge der Wirren des Ersten Weltkriegs flieht die Familie mit drei kleinen Kindern zurück in die Schweiz. Die Ambergs wohnen erst in Knutwil, zügeln danach in den «Brand» ausserhalb Ballwils. Später zieht die inzwischen auf sechs Kinder angewachsene Familie ins Dorf.

Leos Vater arbeitet als Dolengraber, hebt von morgens früh bis abends spät Gräben für Leitungen aus. Eine harte Büez mit Pickel und Schaufel. Was Leo Viktor Amberg in einer Woche aus der Erde schaufelt, erledigt ein Bagger heute in wenigen Stunden.

Seine Kondition stählt Leo Amberg auch auf auf seinem Arbeitsweg nach Hochdorf.

Die Ballwiler Autorin Barbara Schnyder besuchte mit Leo Amberg die Schule. 1993 widmet sie dem berühmten Klassenkameraden in ihrem kleinen Buch «Erzählungen aus alter und neuer Zeit» zwei Seiten. Darin beschreibt sie die wirtschaftlichen Nöte der Familie Amberg, erzählt von «der harten Hand» des Vaters, welche die Kinder in der Nacht zu spüren bekommen oder davon, dass der karge Verdienst kaum reicht, um die grosse Familie durchzubringen. Schnyder erinnert sich aber auch an Leo als einen Buben, der schon früh wusste, was er einmal werden wollte: Radrennfahrer. In der Oberstufe habe ihn sein damaliger Lehrer ermutigt, bei jeder Gelegenheit «Trinkgeld zu machen» und «jeden Batzen zu sparen». Der Lehrer legt Leos gespartes Geld auf ein Kassenbüchlein, die ersten zwei Franken steuert er selbst bei. Tatsächlich reicht es zwei Jahre später für das erste Fahrrad, ein Militärvelo. Leo und sein Bruder Heiri entfernen die Fahrradkette, trainierten von nun an abwechselnd stundenlang in einem Holzschopf. Seine Kondition stählt Leo aber auch auf der Strasse, beispielsweise auf seinem Arbeitsweg nach Hochdorf. Hier macht er beim heute noch existierenden Fachgeschäft Schriber eine Berufslehrer als Elektromonteur.

Das Velo begleitet Amberg weiter. Er tritt dem Radsportverein Eschenbach bei, in der Rekrutenschule wird er den Radfahrern zugeteilt.

Erfolge lösen Begeisterung aus

1934 bestreitet Amberg – als 22-Jähriger eher spät – sein erstes Radrennen: Die Zentralmeisterschaft der Amateure in Muri wird zu seinem ersten grossen Triumph. Trotz gebrochener Gabelscheide deklassiert er über 400 Gegner und fährt als erster durchs Ziel. Nach zwei weiteren Siegen löst Amberg die Profi-Lizenz und verlegt seinen Wohnsitz nach Nizza. Es ist der Beginn eines kometenhaften Aufstiegs.

Er siegt bei seinem ersten Profirennen NizzaSt. TropezSan Remo, bei einem Bergrennen deklassiert er sämtliche Spezialisten. Bei der dritten Austragung der Tour de Suisse 1935 belegt er den zweiten Gesamtrang. Nun nimmt man auch in der Heimat Notiz vom Ballwiler, der sich aufmachte, um die Radwelt zu erobern. Der «Seetaler Bote» schreibt am 22. November 1935: «Die Begeisterung für Leo Amberg wächst im Seetal. Mit seinem Charme und den Leistungen hat er die Herzen der Seetaler im Sturm erobert.» Seine Erfolge und Popularität verschaffen ihm einen Sponsor aus dem Seetal: Seine Radsportgruppe «Kristall» wird von Heliomalt Hochdorf gesponsert.

Leo Ambergs grösste Erfolge
1935:
Platz 2 an der Tour de Suisse
1936: Platz 3 an der Tour de Suisse
1937: Platz 1 an der Meisterschaft von Zürich (Züri-Metzgete)
1937: Platz 2 an der Tour de Suisse
1937: Platz 3 an der Tour de France und Sieger der 5. Etappe
1938: Platz 3 an der Strassen-Radweltmeisterschaft

Allerdings ist zu dieser Zeit mit dem Radfahren kaum Geld zu verdienen. Der Lohn für die sportlichen Erfolge besteht aus Medaillen und Auszeichnungen, seinen Lebensunterhalt muss sich Amberg anderweitig verdienen. Aber auch dabei setzt er auf Zweiräder.

Geschäftsmann im Toggenburg

Amberg gründet 1937 in Degersheim im Untertoggenburg eine Fabrik, wo zwischenzeitlich bis zu 15 Mitarbeiter Fahrräder produzieren. Wie aus der Degersheimer Ortschronik hervorgeht, löst dies über kurze Zeit «einen eigentlichen Velorenn-Boom aus». Leo Amberg habe die Degersheimer Jugend begeistert und er «machte den Namen unseres Dorfes weit über die Grenzen der Region hinaus bekannt».

In Zürich führte Leo Amberg in den 40er-Jahren ein Zweirad-Fachgeschäft. | © Sammlung Walter Bühlmann

Der Betrieb hält aber dem wachsenden Konkurrenzdruck nicht stand und wird liquidiert. Ein älterer Degersheimer erinnert sich zwar an «sehr schöne Fahrräder, die auf dem neuesten Stand waren», sie seien aber mit einem Preis von rund 400 Franken, was den damaligen Durchschnittsmonatslohn überstieg, auch «sehr teuer» gewesen.

Der Sammler findet ein Juwel

Elsass, Ballwil, Nizza, Degersheim, Zürich – die Spuren von Leo Amberg führen auch nach Burgdorf. Hier wohnt der Veloliebhaber und Sammler Kurt Muster. Er besitzt gemeinsam mit seinem Freund Rolf Michel rund 20 Oldtimer-Rennfahrräder, die er restauriert, hegt und pflegt. Steht der Pensionär gerade nicht in seiner Velowerkstatt oder unternimmt eine Fahrradtour auf einem seiner Sammlerstücke, ist er oft im Internet unterwegs. Hier sucht und findet er manchmal einen Jahrzehnte alten Sattel, eine Pedale aus dem Zweiten Weltkrieg oder exquisite Sammlermodelle.

So stösst er vor ein paar Jahren auf ein «Kristall»-Fahrrad mit der Modellbezeichnung «Leo Amberg». Der Anbieter habe keine Ahnung gehabt, um welches Juwel auf zwei Rädern es sich hier handelte, erzählt Muster. Er kauft den alten Renner, beschafft Originalteile aus Frankreich, England und Deutschland und versetzt ihn so gut wie möglich zurück in ihren Urzustand.

Das von Kurt Muster (Burgdorf) restaurierte Amberg-Velo. Noch fehlen einige Teile. | © 2021 Kurt Muster
Detailansicht auf das von Kurt Muster (Burgdorf) restaurierte Amberg-Velo. | © 2021 Kurt Muster
Detailansicht auf das von Kurt Muster (Burgdorf) restaurierte Amberg-Velo. Noch fehlen einige Teile. | © 2021 Kurt Muster
Die Kristall-Amberg-Plakette auf dem von Kurt Muster (Burgdorf) restaurierten Amberg-Velo. | © 2021 Kurt Muster

Die Firma Kristall gibt 1947 als Gründungsjahr an, nach Ansicht Musters kann diese Jahreszahl jedoch nicht stimmen. Es ist bekannt, dass Leo Amberg seine «Kristall Rad Leo Amberg & Cie. Degersheim» 1937 – in der Blütezeit seiner Profikarriere – gründete. Wie Muster am Rahmen und an Original-Komponenten erkennt, stammt sein erstandenes Fahrrad aus der zweiten Hälfte der 30er-Jahre. Auch existieren Bilder, die Leo Amberg 1937 als Schweizer Meister auf einem «Kristall»-Fahrrad zeigen. Wieso die Firma «Kristall» ihre ersten Jahre unter der Leitung von Leo Amberg nicht entsprechend ausweist, ist für Muster unklar. Er habe aber Belege dafür, dass Amberg auf Fahrrädern Rennen gefahren sei, die er selbst in seiner Fabrik gefertigt habe. Er schätzt den Liebhaberpreis seines Amberg-Rads er auf bis zu 2500 Franken.

Auf und ab, auf und neben der Strasse

Nach der Schliessung der Fahrradfabrik in Degersheim eröffnet Amberg 1941 in Zürich zwei Geschäfte. Eines für Fahrräder, im anderen verkauft er Lambrettas. Vollgas im Geschäftsleben, Vollbremsung der Sportkarriere – der Zweite Weltkrieg setzt Ambergs sportlicher Erfolgsserie ein Ende, 1947 beendet er die Profikarriere.

In den 50er-Jahren verkauft er beide Läden und steigt in den Autohandel ein. Später erwirbt er das Wirtepatent, wird Pächter einer Zürcher Sportbar. Hier lernt er seine spätere Frau Maria und deren Tochter Astrid kennen. Das Paar heiratet 1967 und betreibt gemeinsam die Sportbar. Amberg bildet sich nebenbei an der Kunstgewerbeschule weiter, malt und lernt Fremdsprachen. Mit 70 arbeitet er immer noch Vollzeit als Zeichner in einer Wellkartonfabrik, ein Herzinfarkt zwingt ihn mit 72 zur Pensionierung. Mit seiner Frau zieht er 1990 von Schlieren nach Oberriet im Rheintal.

Ein Unfall auf einem Fahrrad, just jenem geliebten Fortbewegungsmittel, das sein Leben prägt, beendet dieses auch. Amberg erleidet unheilbare Verletzungen und stirbt am 17. August 1999. Seine Urne wird im Grab seiner Frau in Bremgarten beigesetzt.

Ein paar Jahre, nachdem Leo Amberg für immer aus dem Sattel steigt, entdeckt Walter Bühlmann das Zweirad neuerlich für sich. Nun fährt er nicht mehr, um bloss ins Dorf zu kommen. Nein, er fährt aus blossem Spass. Die strenge körperliche Arbeit als Landwirt habe ihm früher keine Zeit gelassen für Velotouren, sagt Bühlmann. Dies hole er jetzt aber nach. Er besitzt heute ein E-Bike. Die Anschaffung war ungefähr gleich teuer wie ein Original «Leo Amberg».

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