Das pralle Leben findet neben der Strecke statt

Am Giro d’Italia 2013 siegte Vincenzo Nibali. Darüber, was sich damals zwischen Start und Ziel überdies zutrug, hat Fabio Genovesi ein Tagebuch geschrieben, das jetzt auf Deutsch erschienen ist. Wer darin auch zwischen den Zeilen liest, er-fährt: Beim Velofahren zählt nicht nur das Ankommen.

Nibali, ein Sizilianer, brauchte für die 3333 Kilometer, aufgeteilt in 21 Etappen, 84 Stunden, 53 Minuten und 28 Sekunden. Olympiasieger und Tour de France-Gewinner Bradley Wiggins musste nach 13 Etappen aufgeben. Krank. Das sind Einträge in der Geschichte des Radsports, aber Nebenschauplätze diesbezüglich, was das Unterwegs-sein mit dem Velo ausmacht. Denn das Buch, das Fabio Genovesi darüber geschrieben hat, darf ebenso als «eine zeitlos schöne Hommage an Italien, den Radsport» wie «das pralle Leben» gelesen werden. Mit diesem Satz empfiehlt der Covadonga-Verlag, der den 2019 erschienenen Titel «In meinem Herzen alles Sieger» jetzt auf Deutsch herausgebracht hat, zur Lektüre.

Pedalieren, nicht bolzen

In dem Buch geht es um den Giro. Aber nur vordergründig. Gewiss: Das Rad ist ein Sportgerät und Italien die Herkunft berühmter Ciclisti. Das «pralle Leben» er-fährt (sic!), wer auf zwei Rädern durchs Leben pedaliert. Denn: Wer pedaliert, bolzt nicht, nimmt Umwege in Kauf und weiss, dass Zeit nicht verloren gehen kann, sondern bloss ein anderer Ausdruck für Erleben ist.

Genovesi weiss das. Am Abend der 5. Etappe, am 8. Mai 2013 war das, schreibt er, heute morgen in Cosenza sei im «eine unglaubliche Sache» passiert und erzählt sodann von seiner Begegnung mit Dschamolidin Abduschaparow (geb. 1964), einer verblichenen Radsportgrösse aus Usbekistan. Von Abdu, wie ihn Genovesi nennt, zitiert er den wunderbaren Satz, Radrennen seien «wie das Leben, auf den perfekten Moment zu warten, ist nur eine andere Art, es gar nicht zu tun». (Die 8. Etappe gewann übrigens der Deutsche John Degenkolb. Doch das interessiert neben der Plauderei mit Abdu völlig unter.)

Fabio Genovesi erlebt auf diesem Giro ständig solche Dinge. Solche scheinbaren Nebensächlichkeiten aufzuspüren und zu beschreiben, ist auch sein Auftrag. Schon als Kind versprach Genovesi seinem Onkel: «Eines Tages fahre ich den Giro d’Italia.» Aus der Karriere als Radprofi wurde nichts, er wurde stattdessen Bademeister, Kellner, schliesslich Schriftsteller. Und so wurde der Kindheitstraum am Ende doch noch wahr, 2013 schickte ihn der «Corriere della Sera» los, um die grosse Radrundfahrt als reisender Reporter zu begleiten. Daraus entstand, so der Klappentext, ein Tagebuch mit Abschweifungen und Begegnungen.

Wichtig ist, es versucht zu haben

Ich finde mich in Genovesis Schilderungen wieder; nicht weil ich einst ebenfalls hätte Radrennfahrer werden wollen, sondern weil mir die Begegnungen und Wahrnehmungen entlang und neben der Strecke das Velofahren zur liebsten Fortbewegungsart machen. Den Ciclisti am Giro geht es ums Gewinnen. Ich halte es mit dem Sprinter Stefano Pirazzi, den Genovesi auf der 12. Etappe von Longarone nach Treviso trifft und sagen lässt: «Ich weiss, dass ich am Ende vielleicht nicht gewinne, aber das ist kein Drama. Das Wichtigste ist, dass ich es versucht habe.» Ein paar Seiten später fügt Genovesi selbst an: «Wir plagen uns viel damit, die Dinge zu suchen, die wir wollen, und doch kommt das, was wir wirklich brauchen, von alleine.»

Wer das erleben und für sich beweisen will, schwinge sich in den Sattel. Halte die Augen und Ohren offen und notiere des Abends, was ihm und ihr unterwegs widerfahren ist. Im eigenen, kleinen Lebensbüchlein, das daraus entsteht, liest man später immer wieder gerne.

Fabio Genovesi : In meinem Herzen alles Sieger. 208 Seiten; aus dem Italienischen von Henny Marie Friedrich, Covadonga-Verlag, Bielefeld. ISBN 978-3-95726-075-8, ca. Fr. 18.–
www.covadonga.de

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