Solange ich Velo fahre, sterbe ich nicht

Es gibt mancherlei gute Gründe, Velo zu fahren. Zum Beispiel…

  • …«um Geist und Körper zu lüften und wieder in Harmonie zu bringen».
  • …«zur Erfrischung des Geistes».
  • …als Kind, «um den eng gezogenen Bewegungsradiuszu weiten, den Raum des Wirklichen auszudehnen.
  • …Mit dem Fahrrad beschleunigt sich die Loslösung von den Eltern, räumlich und emotional.»
  • …nach einem Termin, denn «wenn ich wieder auf dem Rad sitze, [ist] das frühere Glücks- und Freiheitsgefühl wieder da».
  • …weil der Velofahrer gewöhnlich, zumal in der Stadt, mit einer «alle anderen Verkehrsteilnehmer übertreffende[n] Schnelligkeit» unterwegs ist.
  • …weil «die freie Bewegung [auf dem Velo] zu einer Steigerung des Selbstbewusstseins führt».
  • …weil Velofahrer «eine unmittelbare Verbundenheit mit der Welt» spüren.

Sieben von vielen Argumenten, weswegen Bettina Hartz nur dann ihr Velo stehen lässt, wenn dieses «dick zugeschneit» oder, wie es ihr im letzten arktischen Berliner Winter geschah, «von einem Eispanzer umhüllt» ist. Velo zu fahren ist für sie «eine Frage der Haltung», wie ihr neues Buch «Auf dem Rad» im Untertitel heisst; eine Liebeserklärung an die meistgebaute Maschine der Welt. Wohltuende Lektüre nebst all den langweiligen Tourenbeschreibungen («In 300 Tagen um die Welt») und Magazinen, in denen es mehr ums Velo denn um das Fahrendamit geht.

Das Rad als Gefährt und Gefährte

Bettina Hartz, 1974 geboren, arbeitet als Schriftstellerin und freie Kulturjournalistin in Berlin. Ihr Buch wird keinen automobilen Zeitgenossen davon überzeugen, seine Karre mal in der Garage stehen zu lassen. Dafür umso mehr Velofahrenden darin bestätigen, aus eigener Kraft unterwegs zu sein. Hartz pedalt mit ihnen durch Geschichte und Gegenwart, sinniert auf zwei Rädern über Räder Radfahrer und Verkehrsvorschriften, macht Ausflüge in Kunst und Literatur. Das Rad ist ihr im Leben Gefährt wie Gefährte, sie er-fährt damit stets aufs Neue «die Verzauberung des Alltags».

Nun ist Bettina Hartz freilich eine derart ausdauernde Radlerin, dass unsereins ausser Atem gerät, hängen wir uns an ihr Hinterrad. Will heissen: Ihre oft unendlich langen, verschachtelten Sätze stehen etwas im Widerspruch zur Einfachheit des Radfahrens. Wer sich mit Bettina Hartz in den Sattel schwingt, muss zwischen Subjekt und Prädikat immer mal wieder derart lange in die Pedale treten, dass ihm keine Musse bleibt, unterwegs die Landschaft zu geniessen. Zudem wird er sich angesichts der vielen literarischen Querverweise seiner eigenen Unbelesenheit schämen.

Mein Velo, mein Buch

Das ist ein bisschen bedauerlich. Zumal aus diesem Grund die wirklich schönen und (aus Velofahrersicht) wahren Sätze buchstäblich auf der Strecke bleiben. Ich habe angesichts dieses Umstands während des Lesens immer mal wieder zum Kugelschreiber gegriffen und unterstrichen, was auf Zustimmung stiess oder aber schmunzeln liess. So ist das mir geschenkte Exemplar, mit allerlei Anmerkungen versehen, vollends zu meinem geworden, und dies dürfte ganz in Bettina Hartz‘ Sinne sein, die nämlich in ihren Rädern nicht blosse Fortbewegungsmittel sieht, sondern beseelte Wesen. Solchen gilt stetes Kümmern, und schon beim Verleih übt man Zurückhaltung. Denn «zur blossen Sorge um den Erhalt der mechanischen Funktion tritt die Angst, es könnte ihm in den Händen eines anderen etwas zustossen und Dinge erleben, die ihm sein Besitzer, dem es schon schwerfällt, sein Rad abends allein auf der Strasse zurückzulassen, keinesfalls zumuten will.»

Einige dieser schönen Sätze und ewigen Veloweisheiten verdienen es, hier zitiert zu werden:

  • «Keineswegs setzt sich der Radfahrer aus Hochmut oder Aggressivität über Regeln hinweg, sein Rebellentum erwächst vielmehr aus der beständig geschulten Fähigkeit, sich den Gegebenheiten anzupassen, weshalb er die Regeln und Vorschriften nicht nach dem Buchstaben auslegt, sondern nach der je vorgefundenen Situation.»
  • «Die Feindschaft zwischen Auto- und Radfahrer scheint leider unbeendbar. Und rührt wohl, von Seiten des Autofahrers, vor allem daher, dass der sicher und warm in seinem Panzer sitzende Mensch dem Radfahrer etwas neidet, was ihm selbst, trotz seiner Überlegenheit an Masse, Kraft und Volumen, abgeht: die ungeheure Wendigkeit, die der Radfahrer besitzt, und das Ausleben-Können seines anarchischen Geistes.»
  • «Und wenn wir vom Rad gestiegen sind, sind unsere Lebensgeister erfrischt – wie uns umgekehrt die Müdigkeit, ja, Langeweile einer langen Zugsfahrt oder eines langen Flugs, auch wenn wir Zug und Flugzeug längst verlassen haben, noch lange anhängt.»
  • «Und so kann man auf dem Rad zwar durchaus melancholisch sein, aber nicht depressiv (wer depressiv ist, fährt nicht Rad, wenn aber doch, verliert sich seine Depression, sobald und solange er fährt).»
  • Unterwegs im Stossverkehr: «Vor allem an Tagen, die wie fürs Radfahren gemacht sind, sonnigen, aber nicht heissen Vorsommertagen etwa, an denen ein leichter spielerischer Wind weht, alles von Frische glänzt, die Farben leuchten und man so schwebend leicht unterwegs ist, als sässe man in einem Ballon, begreift man nicht, warum so viele Menschen sich und ihren Mitmenschen diese nicht nur für sie selbst und ihre Umwelt ungesunde, sondern, von ökonomischen Gesichtspunkten aus betrachtet, auch durch und durch unvernünftigen Fortbewegung antun.»

Weshalb übrigens Bettina Hartz dieses Buch geschrieben hat; will heissen: Weshalb sie überhaupt Velo fährt – dafür braucht sie nur wenige Worte. Diese finden sich auf Seite 55: «Solange ich fahre, altere ich nicht, sterbe ich nicht. Das Radfahren ist daher für mich mehr als eine blosse Fortbewegungsart unter vielen, es ist eine nicht nur körperliche, sondern vor allem geistige Lebensform.»

Bettina Hartz, «Auf dem Rad. Eine Frage der Haltung», Deutsche Verlags-Anstalt, München, 2012, gebunden, mit Schutzumschlag, 208 Seiten, ISBN: 978-3-421-04479-2, Fr. 21.90.

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