Die Ärmel hochkrempeln oder: Mit dem Velo rund um den Kanal

Auf zwei Rädern durch vier Länder, dem Wasser entlang und darüber: Wer um den Ärmelkanal pedaliert, taucht in die Geschichte ein, begegnet königlichen Hoheiten oder James Bond – und spielt mit dem Wind.

Hinweis: Diese Reportage habe ich für die Ausgabe 1/2024 des Velojournals verfasst, der Schweizer Zweiradfachzeitschrift. Sie erscheint hier in einer leicht längeren Fassung.

«C’ést compliqué», meint der Mann mit Hund, den wir in Dunkerque, Dünkirchen, auf der Strasse treffen. Wir waren ins Plaudern gekommen und dann auf die französische Politik. Bienvenue in Frankreichs Norden – und bonne route! Drei Wochen später macht Rob, der auf einem Bauernhof-Zeltplatz in der Normandie für uns kocht, den Satz fertig: «Mais à vélo, tout est un peu plus simple.» Marieke, die mit Rob den Camping führt, pflichtet ihm bei: Auf dem Velo geht alles ein bisschen einfacher. Oh là là!

Losgefahren waren wir in Amsterdam, das Ziel hiess London, Tochterbesuch. Velofahren heisst auf niederländisch fietsen. Das klingt wie flitzen und fühlt sich auch so an. Wir können Wanderwege, die Niederländer Fietspfade. Ein Chocoladebroodje zum Koffie? Da verstehen wir uns länderübergreifend. Bedankt!

Der Wind bläst uns voran. Oder bremst uns aus

Auf dem Nordseeküsten-Radweg gondeln wir südwestwärts durch liebliche Landschaften, links Blumen- und Gemüsefelder, rechts Strand und Wasser, wir passieren vor den Kameras im Botschafterviertel von Den Haag, ehe wir auf einer Fähre den grössten Hafen Europas queren: Rotterdam. Was wir im Netz mit ein paar Mausklicks bestellen, steckt hier in einem der turmhoch geschichteten Container. Da und dort erinnern Tafeln an die grosse Sturmflut von 1953, in deren Folge die grossen Sperrwerke errichtet wurde. Sie sind mit dem Velo sicher zu befahren. Der Wind bläst uns voran. Oder bremst uns aus.

Die belgische Nordseeküste ist nur 65 Kilometer lang. Umso mehr lohnt sich der Abstecher über Brügge. Vom Grenzsstädtchen Sluis geht’s bis dorthin einem alten Kanal entlang. Die Hauptstadt Flanderns ist seit 2000 Unesco-Weltkulturerbe, das mittelalterliche Stadtbild mit seinen historischen Gebäuden, durchzogen von Kanälen, sehr gut erhalten. Die Wasserstrasse von Brügge sodann bis zum Seehafen Ostende ist noch schiffbar. Im Zweiten Weltkrieg weitgehend zerstört, reiht sich heute in dem Seebad ein architektonischer Missgriff an den anderen, sodass wir schnell das Weite suchen.

Menschen mit und ohne Pass

Im Städtchen Veurne gefällt’s uns schon besser, und schon bald passieren wir die französische Grenze. Am Abend, auf dem Ende Juni noch menschenleeren Camping, fragen wir uns, was denn den Reiz einer solchen Tour ausmache. Was ist schön, was abzuhaken? Alles – und nichts, finden wir. Anderntags tauchen wir aufs Neue in den Alltag von Menschen, reihen Bilder und Augenblicke aneinander, von denen nur wenige in Erinnerung bleiben: die riesigen Industrieflächen nach Dünkirchen, die Boule spielenden Männer in Grand-Fort Philippe, die hinter einer Hecke sich duckenden Flüchtlinge bei Calais. Zwei bewaffnete Polizisten dann nach der nächsten Wegbiegung. Uns grüssen sie freundlich. Auch die Bürokratie, um von der EU ins Vereinigte Königreich zu gelangen, ist für Menschen mit Pass keine Hürde. Vier Mal scannen lassen, und wir dürfen einschiffen.

Ein bisschen bangt uns während der anderthalb Stunden über den Kanal vor dem Linksverkehr bei den Briten. Wir erinnern uns des österreichischen Lyrikers Ernst Jandl, der 1966 in seinem Gedicht «Lichtung» wortspielte, «werch ein Illtum» es sei, man könne «lechts und rinks» nicht «velwechsern». Doch von wegen: Damit die Festländer nicht «illtümrich» unter die Räder kommen, mahnt sie bei der Ankunft in Dover schon beim ersten Fussgängerstreifen eine Bodenmarkierung: «Look right, look left». Wir schauen also zuerst nach rechts und spuren beim ersten Kreisel links ein. Es regnet.

Erinnerungen an den 6. Juni 1944

In Folkestone ist der Himmel wieder heiter und die Aussicht vom Camping «Little Switzerland» erhaben. Der Platz heisst so, weil das kleine Gebäude, das darauf steht, früher wie ein Schweizer Chalet aussah. Es diente der britischen Armee als Rückzugsort. Unweit davon befindet sich das «Battle of Britain Memorial», das die Geschichte der Luftschlacht um England 1940/41 erzählt. Der Zweite Weltkrieg ist rund um den Ärmelkanal noch vielerorts gegenwärtig. An der Normandie-Küste gibt es zahlreiche Gedenkstätten und Museen, die an den 6. Juni 1944 erinnern, den D-Day, den Tag der Entscheidung – Decision. Die Strände tragen englische Namen, wo die Alliierten in dem von Hitler-Deutschland besetzten Frankreich landeten, Utah Beach, Ohama Beach oder Sword Beach, eine Strasse heisst «Avenue de la Libération», eine andere «Amiral Mountbatten». An vielen Beleuchtungsmasten hängen Fotos damaliger Befehlshaber, darunter der Satz: «Vergesst unsere Kriegshelden nicht».

Wir lassen die Geschichte ruhen und kreuzen durch die Grafschaft Kent Richtung London. Für die rund 150 Kilometer nehmen wir uns drei Tage Zeit. Strässchen führen zu stillen Dörfern, über Land säumen sie hohe Hecken und mächtige Bäume; vor einem abgelegenen Gehöft schreiten zwei Fasane über den löchrigen Asphalt. Robin Hood, bewaffnet mit Pfeil und Bogen, winkt uns aus dem Dickicht zu.

Brennesseln an den Waden

Die Autofahrer sind hier höflich und warten, bis wir sie vorbeiwinken. Anders in den grösseren Orten: Da wird eng überholt, kreuz und quer parkiert und zieht unsereins besser den Kopf ein. Mit dem Velo ist da niemand unterwegs. Stimmt, sagt Callum Rickard von Sustrans, der Organisation, die in England ein Netz von beinahe 20’000 Kilometern Radwegen hütet. Ziel sei, dass das «National Cycle Network» jede Gemeinde mit 10’000 oder mehr Einwohnenden erschliesse, sagt Rickard. Was in den Gemeinden selbst abgeht, ist eine andere Sache, erfahren wir. Und auch, dass selbst die Hauptrouten nicht immer das halten, was sie auf der Karte versprechen. Rickard weiss darum und sagt, für den Unterhalt sei nicht Sustrans zuständig. Nun: Das macht die Sache abwechslungsreich. Brennesseln kitzeln die Waden, wo die Strasse in einen verwachsenen Pfad übergeht, durch Naturschutzgebiete geniessen wir Vorfahrt, die Kilometer neben der sechsspurigen Autobahn nehmen wir in Kauf, weil wir wissen, dass es die letzten dreissig Kilometer entlang der Themse autofrei bis in die Londoner City geht. Mit Einfahrt am zweiten Sonntag der Tour punkt 17 Uhr vor dem Westminister Tower. Einfach königlich!

In der Hauptstadt selbst macht die Radelei dann wieder gehörig Spass. Sich hier durch den Verkehr zu schlängeln ist mitunter weniger gefährlich als über die Luzerner Seebrücke. Es gibt ein weit verzweigtes Netz von Radwegen. Das nutzen die Menschen auch – aber vorab nicht der Umwelt zuliebe, sagt Peter Wallis, sondern aus praktischen Gründen: «Weil es immer schwieriger wird, in London ein Auto zu haben und zu fahren.» Wallis hatte uns tags zuvor in Rochester angesprochen, wo wir ihm mit unseren Tourenvelos aufgefallen waren. Der Bauingenieur und leidenschaftlicher Alltags- und Tourenfahrer weist auf die Einschränkungen hin, die mittlerweile für Autos und Lastwagen in London gelten. Für die Innenstadt gilt eine Mautpflicht, und Fahrzeuge mit hohem Schadstoffausstoss müssen im ganzen Grossraum London eine Abgabe zahlen. Der Verkehr ist freilich auch so noch dicht.

Auge in Auge mit James Bond

Den Tee bei ihrer königlichen Hoheit verpassen wir deshalb. Dafür stehen wir anderntags im Schlafzimmer seiner Grossmutter. Queen Mom – Gott hab’ sie selig – verbrachte auf Polesden Lacey, einem Herrenhaus in den North Downs, die erste Woche ihres Honeymoons. Vor genau 100 Jahren – Ende April 1923. «Dies ist ein wunderbares Haus und das Essen köstlich», schrieb Lady Elizabeth ins Gästebuch. Die Küche auf Polesden Lacey ist noch intakt, die Vorratskammer allerdings leer. Uns schmeckt’s sowieso besser auf dem nahen Camping, einem Juwel von Zeltplatz. Autofrei, Cricket spielende Kinder, Sternenhimmel.

Gut 50 Kilometer weiter, vorbei an Bauernhäusern unter grossmächtigen Eichen und Cottages mit goldglänzenden Schildern, lädt uns James Bond auf einen Drink ein. In Amberley – «die Perle von Sussex», findet Linn auf dem Zeltplatz – wurde 1984 die Minenszene von «A View To A Kill» gedreht, des letzten Bonds mit Roger Moore. Wir haben Durst, stossen deshalb mit Cider an, den es hier vielfältig gibt, und legen eine Wanderpause ein. Der Nationalpark South Downs hat auch zu Fuss viel zu bieten.

Nach einem Zwischenhalt in der Altstadt von Chichester erreichen wir Portsmouth, winken dort Schriftsteller Charles Dickens an dessen Geburtshaus zu und stürzen uns auf der HMS Victory, dem Flaggschiff von Vizeadmiral Lord Nelson, in die Schlacht von Trafalgar. Wann war das schon wieder? Genau: 1805.

Eine Brioche in La Vaste

An Bord der «Galicia», die uns in der folgenden Nacht zurück aufs französische Festland bringt, schlafen wir ohne Kanonendonner. Ab Cherbourg gibt’s wieder Croissants zum Café und ist die Auswahl an Fromages gross. Wir decken uns auf dem Marché ein, lassen uns zwei Stunden später in La Vaste eine grosse Brioche einpacken und uns vom Westwind ostwärts stossen. Die reine Idylle.

Unterwegs sind wir nun auf der «La Vélomaritime», dem französischen Teil der EuroVelo 4, die von Roscoff in der Bretagne über 1500 Kilometer bis an die belgische Grenze führt. Wir pedalen durch die Normandie – knapp die Hälfte der Strecke. Die Vélomaritime ist seit einem Jahr durchgehend in beiden Richtungen markiert. Zwei Drittel führen über kleine, verkehrsarme Strassen, der Rest sind reine Velowege. Bis es soweit war, dauerte es ein Dutzend Jahre, und aus der ursprünglichen Idee, die englische Südküste einzubeziehen, wurde nichts, weil das Land seine Beteiligung zurückzog. Das reut die Briten inzwischen womöglich. Denn inzwischen stellen die Vélomaritime-Verantwortlichen fest, dass die Zahlen steigen. Noémie Rousset, für den Bau und Unterhalt der Vélomaritime verantwortlich, sagt, der Velotourismus sorge in ganz Frankreich für jährlich rund 4,2 Milliarden Euro Umsatz. Ein Velotourist gebe durchschnittlich 68 Euro pro Tag aus, ein anderer lediglich 55. «Sie bleiben länger im Gebiet und konsumieren hier auch jeden Tag.» Es sei also «von entscheidender Bedeutung, in Velowege zu investieren und qualitativ hochwertige Dienstleistungen anzubieten», betont Rousset.

Ein Kerzchen als Dank

Die Rechnung stimmt in etwa. Wir zwei kommen auf unseren Touren auf etwa 100 Franken pro Tag. In der Normandie kaufen wir dafür zum Beispiel beim Dorfbäcker ein, wir geniessen die viele Sorten Cider im Departement Calvados, bleiben bei den Klippen von Etretat ein paar Tage statt nur ein paar Stunden wie die Cartouristen und essen uns an Crêpes und Galettes satt. So geht das kreuz und quer durchs weite Land. Wo es der Küste entlang zu trublig wäre, biegt die Route ab in die Ruhe, wo sich in den Dörfern mitunter oft keine Menschenseele blicken lässt. Das Leben hat sich (auch) hier längst von der Strasse verabschiedet. Uns gefällt’s gleichwohl.

Dort, wo die Somme in den Ärmelkanal mündet, geht die Reise schliesslich zu Ende. Fast jedenfalls. Der Fluss schlängelt sich von hier südostwärts durch die Landschaft, stets gesäumt von einem Treidelpfad, der sich wunderbar als Veloweg macht – die ganzen rund 70 Kilometer bis Amiens. In der Stadt mit ihrer berühmten Kathedrale zünden wir ein Kerzchen an als Dank für die unfallfreie Fahrt. Und steigen anderntags in den Zug, der uns über Paris und Strassburg nach Hause bringt.

Informationen zur Tour

  • Überblick: Amsterdam ist ein guter Ausgangspunkt für Velotouren in viele Richtungen, weil die Stadt mit dem Nachtzug leicht erreichbar ist. Die hier beschriebene Tour führte durch die südlichen Provinzen der Niederlande, über Brügge durch Belgien und in Frankreichs Norden bis Calais. Hier legen Fähren nach Dover rund um die Uhr ab, in anderthalb Stunden ist England erreicht. Bis London gibt es viele Möglichkeiten; lohnend ist die Einfahrt ab Erith der Themse entlang: Rund 30 autofreie Kilometer fast bis zum Westminster Tower.

    Von der britischen Hauptstadt südwestwärts ist bald der South Downs Nationalpark erreicht, wo es sich auch gut wandern lässt. In Portsmouth legen Fähre nach Cherbourg ab, der kleinen Stadt am Zipfel der Halbinsel Cotentin an der französischen Küste des Ärmelkanals. Mit dem Wind im Rücken pedalt sich’s ab hier leicht Richtung Osten – alles auf dem Radweg «La Vélomaritime», im Wechsel entlang der Küste und, wo dort zu viel Trubel herrscht, durchs ruhige Landesinnere. Stationen mit bekannten Namen: Le Havre, Dieppe.

    Letzter Abschnitt der Tour: Ab Saint-Valery-sur-Somme dem Flüsschen gleichen Namens entlang südwärts bis Amiens. Ab hier gibt es gute Zugsverbindungen über Paris und Strassburg nach Basel.
  • Dauer und Streckenlänge: Sechs Wochen, rund 1600 km, beliebig veränderbar
  • An- und Rückreise, unterwegs: Mit dem Nachtzug nach Amsterdam; Reservation ab 180 Tage vor Abfahrt möglich; Kosten für zwei Erwachsene und zwei Velos etwa 300 Franken. In den französischen TER-Zügen kann das Velo gratis mitgenommen werden; Ticketkauf vor Ort an einem grossen Bahnhof oder über die SNCF-App
  • Fähren: Fähre Calais-Dover muss nicht reserviert werden; Kosten für zwei Erwachsene und zwei Velos rund 80 Franken; die Fähre Portsmouth–Cherbourg (8 Stunden) fährt unregelmässig und muss reserviert werden; Kosten für zwei Erwachsene und zwei Velos etwa 120 Franken
  • Übernachten: auf Zeltplätzen (Reservation in der Ferienzeit empfehlenswert), in Jugendherbergen und Hostels – breites Angebot für jedes Budget
  • Zu beachten: Passpflicht für die Einreise nach England
  • Karten: In Ergänzung zur Navigation über eine App sind für England die Karten des National Cycle Network und in Frankreich die Michelin-1-200’000-Strassenkarten empfehlenswert.
  • lavelomaritime.de: Radweg von Dunkerque an der französisch-belgischen Grenze bis nach Roscoff in der Bretagne
  • sustrans.org.uk: Organisation für das englische Nationale Cycle Network, das rund 19’000 km Radwege umfasst; Bestellmöglichkeit für Velokarten
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