Velofahren in Gotland: Mit dem Rad durchs Riff

Vor 400 Millionen Jahren lag Gotland beim Äquator. Schwedens grösste Insel ist deshalb der Rest eines Korallenriffs. Die Geschichte hat hier alles hinterlassen, was eine Velotour kurzweilig macht.

Diese Reportage ist in der Zeitschrift Velojournal Nr. 4/2020 (Juli) erschienen. Die Tour machten wir im Sommer 2020; ich habe zusammenfassend bereits hier darüber berichtet. In diesem ersten Beitrag findet sich auch die Streckenführung.

Den Gotland-Krimi lesen wir auf der Anreise. Machen uns mit Kommissarin Maria Wern auf die Pirsch: Südwärts mit Stopp in Klintehamn; nordwärts nach Lärbro, mit Blaulicht zurück nach Visby. Bösewichte gefasst, automobil.

Eine Kommissarin mit dem Velo? Das sei schon wegen der Dialoge nicht machbar, sagt Autorin Anna Jansson. Ob sie immerhin selber Velo fahre? «Nie», antwortet Jansson.

Da verpassen die beiden Damen aber etwas.

Wir im Sattel finden nämlich Sand an blaugrünem Wasser, pedalen durch wüstengleiche Einöden, begegnen einer steinernen Jungfrau und schliessen Bekanntschaft mit geschäftstüchtigen Bauern. Es stimmt, was Sören Grytting sagt, der für Cykelfrämjandet, die schwedische «Pro Velo», Touren durch die Insel begleitet: «Gotland hat am meisten Sonnenstunden von Schweden, die Natur ist vielfältig und die Kulturlandschaft reich.» Das grösste Eiland der Ostsee lässt sich auf dem Velo leicht in zwei Wochen erfahren – aber schon die halbe Runde gibt mehr her als für diese Dauer. Einziger Nachteil: Die Anreise nach Gotland mit Zug und Schiff ist umständlich (siehe Kasten).

Mit dem Velo auf dem vom Wasser gehärteten Sand: Am Nordzipfel von Fårö überrascht der kilometerlange Strand. | © 2019 Dominik Thali
Mit Wolken und Wind ist im Norden jederzeit zu rechnen: Bei Kyllaj. | © 2019 Dominik Thali

«The law» – und deshalb nur Wasser

Schlecht planen lässt sich auch mit dem Wind. Er zerzaust am zweiten Tag unsere Idee, die Vogelinsel Stora Karlsö südlich des Hauptorts Visby zu erkunden: Die kleine Fähre legt nicht ab – zu hoher Wellengang. Also machen wir rechtsumkehrt und pedalen von der Enttäuschung zum Erlebnis. Zwei Stunden nördlich von Visby biegen wir in eines dieser unscheinbaren Strässchen ab, die es sich zu nehmen lohnt, weil sie oft an ein wunderbares Nicht-mehr-Weiter führen: an einen Strand, in ein altes Fischerdorf, zu einem Café mit Streusselkuchen. In Lickershamn zelten wir gleich am Meer. Über unseren Schlaf wacht eine kalksteinerne Dame, Jungfrau genannt und 27 Meter hoch. Die steht hier seit Urzeiten und ist eine Rauke, ein Gebilde aus Kalkstein, wie es die letzte Eiszeit vor etwa 10’000 Jahren vielerorts an Gotlands Küste ausgewaschen hat. «Der gotländische Boden ist zu einem grossen Teil aus Korallenriffen aufgebaut, die sich in einem tropischen Meer vor etwa 400 Millionen Jahren gebildet haben», lesen wir später auf einer Informationstafel. Damals lag Gotland noch in der Nähe des Äquators. Ein paar Erdzeitalter weiter südlich also.

Bizzarre Formationen an der Westküste von Fårö bei Digerhuvud. | © 2019 Dominik Thali
Schweden wie aus dem Bilderbuch – in allen Farben. | © 2019 Dominik Thali

Das Fräulein Jungfrau ist also älter als jede schwedische Gesetzestafel, gleichwohl und leider kann sie uns nicht zu jenem Bier verhelfen, das wir in der nahen Sommerbar zur Abrundung unserer Freiluftküche ordern wollen. Alkohol über die Gasse gibts in Schweden nicht. «The law», erklärt die Bedienung freundlich, aber bestimmt. Dafür füllt sie unseren Wassersack. Gratis.

Bullars und Kaffee bis zum Abwinken

Grosszügig sind die Schweden auch mit dem Kaffee. Dieser dampft im Restaurant in einem Glaskrug auf einer Wärmeplatte, frisch gefiltert. Man bezahlt einmal, kaum drei Franken, und schenkt nach, soviel man mag. Påtår heisst diese Regel, ausgesprochen Poortuur. Als wir der Wirtin beim Znüni im am anderen Morgen erklären, wie viel ein Café crème hierzulande kostet, schüttelt sie den Kopf: «Und das für nur eine Tasse?»

Blick in die Wolken: In der Bucht von Lörje auf der Ostseite Gotlands. | © 2019 Dominik Thali

Frisch gestärkt, auch mit einer Bullar, einer Zimtschnecke, wie es sie in allerlei leckeren Varianten gibt, radeln wir nordwärts weiter. Die menschenleere Strasse führt durch eine karge Landschaft; Bäume und Büsche gedeihen auf dem kalkigen Boden nur spärlich. Eine Abzweigung später, im Hall-Hangvars Naturreservat auf nunmehr gekiestem Grund, wirds wieder grüner und blüht es üppig am Wegrand: Natternzorn und Malven, Wegwarten und Königskerzen. In Hall scheint die Strasse bei einer Handvoll Fischerhütten im Meer zu enden. Hier liesse es sich endlos sein. Sonne, Wind – und aber Kühle, kaum werfen die Wolken schatten. Ohne warme Jacke lässt es sich im Norden nicht gemütlich verweilen.

In die «Blaue Lagune» köpfeln

Bis Kappelshamn geht es weiter durch lichten Wald, ein Panoramasträsschen überm Meer. Felswände stürzen steil ins Wasser, Spuren von Urgetier finden sich darin, Steinsammler werden hier reich. Abends hat Zeltplatzwart Peter Rinke Zeit für einen Schwatz und listet auf, wohin sich Abstecher lohnen. Wir lassen uns anderntags vom ehemaligen Kalkwerk Bläse beeindrucken und springen am Nachmittag in die «Blaue Lagune», Gotlands berühmtesten Badesee. Im ehemaligen Kalkbruch sammelt sich das Wasser klar und warm, von den steilen Ufern springen die Wagemutigen kopfüber. Abends treffen wir Peter mit seinen Kollegen in Bademänteln plaudernd vor dem Zeltplatzhäuschen. Saunatreff. «Für die Frauen von sechs bis acht, gemischt von acht bis zehn», ruft einer der Männer. Zur Abkühlung taucht Mann und Frau ins nahe Meer. Wir werfen einen Blick aufs Badethermometer, das im Wasser hängt: 16 Grad.

Wirklich touristisch ist es auf Gotland nur in Visby: Im Jachthafen der Inselhauptstadt. | © 2019 Dominik Thali

Unsere Tour führt kreuz und quer durch Wald und Landschaft. Wirklich etwas los ist auf Gotland nur im Hauptort Visby und auf der nördlich vorgelagerten kleineren Insel Fårö, und auch das bloss im Sommer, wenn sich doppelt so viel Volk hier tummelt wie die 60’000 das Jahr über. Einsam ist es gleichwohl nirgends. Es gibt kaum einen Hektar Wald, in dem nicht ein Haus oder Häuschen steht. Schweden ist gehäuselt, in schwedenrot, schwedenblau und schwedengelb; Rosen ranken, es riecht nach Rasenmähen und in der Einfahrt parkt ein Allrad-Volvo. Wie das? Und weshalb? «Wir Schweden leben einfach gerne im Wald», meint ein Stockholmer. Seinesgleichen zieht es in der hellen Jahreszeit zuhauf vor allem auf Fårö. Berühmtester Häusler ebenhier war Filmregisseur Ingmar Bergman (1918–2007), der 1965 seinen Wohnsitz auf die kleine Insel verlegte und einige seiner wichtigsten Filme auf Fårö drehte.

Dünen, Stille und Fischerhütten

Wer sich für Bergman interessiert, heftet sich an seine Spuren. Wir lassen das ihm gewidmete Museum links liegen und pedalen vom Zeltplatz in Ekeviken in Tagesrunden durch eine Inselwelt, die vielfältiger nicht sein könnte. Ganz im Norden etwa versteckt sich ein Sandstrand, wie man ihn vom Strässchen aus nicht erwarten würde, das durch den Wald um den Inselarm führt. Ein Hauch von Karibik an der Ostsee, meterhohe Dünen, stille Weite. Im Westen wiederum führt die Strasse hinaus zum Inselfinger Langhammars durch eine menschenleere Landschaft. Die Sonne hat sie braun gebrannt, hunderte Meter lange Steinmauern teilen die alten Felder ein. Die Küste, an der skurrile Rauken die Fantasie anregen, reicht weit ins Land hinein, der Wind streicht übers das karge Flach, an das sich geblumtes Grün klammert. In Helgumannen erzählt eine Handvoll rotbrauner Fischerhütten von den Bauern, die hier einst im Frühling und Herbst wochenlang lebten und ihren Fang vor Ort im Rauch haltbar machten.

Den Feierabend geniessen: Ein Gotland-Insulaner in Kappelshamn. | © 2019 Dominik Thali

An dritten Tag auf Fårö lassen wir das Velo stehen; in der Nacht hatte der Regen laut aufs Zeltdach getrommelt und ein Sturm an der Verspannung gezerrt. Norsholmen ist eine der vielen vorgelagerten Inseln und Halbinseln, die nur zu Fuss erkundet werden können. Bis Mitte Juli, nach Ende der Brutzeit vieler Vögel, dürfen sie in der Regel überhaupt nicht betreten werden. Der Wind pfeift uns um die Ohren, die Kite-Surfer legen sich in wärmenden Neopren-Anzügen mit ihm an.

Um die Insel auf dem Gotlandsleden

Wärmendes zum Abschied erstehen wir uns zum Abschied im «Fårö Hantverkshus», wo es allerlei Gestricktes aus einheimischer Wolle gibt. Das Schaf ist Gotlands Wappentier. Uns ziehts nun wieder südwärts, und wir setzen mit der Fähre in wenigen Minuten nach Fårösund auf Gotland über. Der Gotlandsleden, an den wir uns halten, ist eine rund 500 Kilometer lange Route, die rund um die Insel führt. Es gibt ihn schon seit bald 40 Jahren, der Trail wird aber erst jetzt erneuert, sodass die Beschilderung noch Lücken aufweist. Ohne Karte gehts nicht. Die Strassen wellen sich sanft ins Land. Viele Kilometer gehts auf unbefestigen Wegen durch Felder und Wald, doch auch manche entlang stärker befahrener Verbindungen. Andere Tourenfahrer begegnen uns wenige. «Aber die Zahl steigt», heisst es bei Gotland Tourismus. Dass die Einheimischen selbst kaum Velo fahren, kann Sören Grytting nachvollziehen: «Das Velo hat keine Tradition auf Gotland. Die Distanzen sind zu lang, es gibt keine Velowege ausserhalb von Visby und wenig Busse.» Diese haben freilich Haken, um Velos zu transportieren.

Das Handelsmonopol auf Eichhörnchenfelle

Unsere Runde neigt sich dem Ende zu, derweil die Kurzweil anhält: Einsame Höfe, verwunschene Wälder, niedliche Cafés. Wir touren auf der Ostseite mit Zwischenhalten bis zur breitesten Stelle Gotlands in Östergarn. Die Schilder und Ortsnamen, die in unseren Ohren eigenartig klingen, lassen und immer wieder schmunzeln: Hunddagis, Lummelanda oder Kräklingbo. Eines sonnigen Morgens, auf der letzten Etappe zurück nach Visby, kreuzen wir ferner Gammelgarn, wo nicht etwa verschimmelte Wolle feilgeboten wird, sondern Jan Winter vom dortigen Heimatverein uns eine Lektion in gotländischer Geschichte erteilt und den Wehrturm aus dem 12. Jahrhundert eigens für uns öffnet. Die gotländischen Bauern waren einstmalen gefitzte Geschäftemacher; sie besassen sogar in Russland einen Stützpunkt und Handelsmonopole. Zum Beispiel für das Winterfell des Eichhörnchens oder von Bienenwachs. «Beides war damals von Königshäusern in ganz Europa sehr begehrt», weiss Winter. Der «enorme Reichturm» der damaligen Landbauern und Handelsfürsten zeige sich bis heute in der grossen Zahl von Silberschätzen, die noch aus der Gotlanderde ausgegraben würden. Den grössten Fund machte man vor 20 Jahren: «67 Kilo schwer, der weltweit grösste Wikingerschatz überhaupt», erzählt Winter. 14’000 Münzen seien das gewesen.

Glacé in 300 Sorten

Eine davon investieren wir auf der Weiterfahrt in einen Schluck aus der Whisky-Brennerei in Romakloster, die dort 2004 in einer ehemaligen Zuckerfabrik eröffnet wurde. Auch in Sachen Bier schmeckt Gotland hervorragend, wie wir inzwischen wissen. Am selben Abend lassen wir uns wieder im sommerlichen Getümmel von Visby treiben. In der alten Hansestadt mit ihrer 3,6 Kilometer langen Wehrmauer belächeln wir die Klappevelos der Millionäre auf ihren Yachten und nehmen den Möchtegerns im Kreisel die Vorfahrt. Vor der Theke von «Europas största Glassbar» stehen wir dann in der gleichen Schlange an. Dafür mehrmals. Denn Glacé gibt’s dort in 300 Sorten.

Dominik Thali

INFORMATIONEN

Auf einen Blick: Die Ostsee-Insel Gotland ist Schwedens grösstes Eiland, ihr nördlich vorgelagert ist Fårö. Von der Südspitze Gotlands bis an den Nordzipfel Fårös sind es etwa 150 km; an der breitesten Stelle misst Gotland 55 km. Beide Inseln sind weitgehend flach; die Eiszeit hat sanfte Anhöhen geformt und macht Velotouren abwechlungsreich. Wirklich geschäftig ist Gotland nur im Sommer und im Hauptort Visby, dem mittelalterlichen Städtchen an der Westküste. Ansonsten locken das weite Land, unberührte Natur, Wald und Wasser zu Touren kreuz und quer. Zeltplätze gibt es allerorten, Einkaufsmöglichkeiten weniger.

Gotlandsleden: Rund um Gotland und Fårö führt der Gotlandsleden, eine rund 500 km lange Route, weitgehend auf geteertem Untergrund, aber auch guten Schotter- und Waldstrassen. Getrennte Velowege gibt es kaum. Der Gotlandsleden meidet jedoch die Hauptverbindungen, und auf den kleinen Strässchen lässt sich das Radeln gut nebeneinander fahrend geniessen.

Karten: Der Gotlandsleden ist zwar ausgeschildert, aber noch ungenügend; ohne Karte geht es nicht. Sehr gut sind die Velokarten von Cykelkartan (cyklekartan.se) im Massstab 1:90’000; die Nr. 11 deckt Gotland und Fårö ab.

Ideale Reisezeit: Im Sommer, wenn die Sonne schon morgens um vier Uhr auf- und am Abend erst kurz vor zehn Uhr untergeht.

Mit ins Gepäck: Warme Kleider. Gotland lockt zwar mit den meisten Sonnenstunden des Landes, aber es windet stetig, zumal an der Küste, und versteckt sich die Sonne hinter Wolken, kühlt es gleich ab.

Anreise: Mit dem Nachtzug nach Hamburg (reservationspflichtig, bei Velomitnahme früh buchen); weiter mit dem Regionalzug nach Travemünde oder Rostock und mit der Fähre nach Trelleborg. Ab hier mit dem Velo der Küste entlang nach Oskarshamn (450 km), wo die Fähre nach Gotland ablegt. Die beschriebene Tour war in eine sechswöchige Reise durch Südschweden eingebettet. Gotland ist mit dem öffentlichen Verkehr schwer erreichbar, weil die Schwedische Staatsbahn die Velomitnahme nicht erlaubt, anders als die privaten Bahngesellschaften und Busse. Die Anreise dauert aber auch mit diesen drei bis vier Tage. Vorschläge: Über Kopenhagen nach Malmö, Bahn bis Växjö (Öresundståg), Bus bis Oskarshamn; oder ab Trelleborg bis Karlskrona mit der Bahn, mit dem Velo bis Kalmar, Bus bis Oskarshamn.

Übernachten: auf Zeltplätzen oder in freier Natur (in Schweden gilt das Jedermannsrecht) , in Jugendherbergen (Vandrarhems), Gästezimmer – breites Angebot für jedes Budget

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