Velosophieren mit Sokrates und Einstein

«Sokrates auf dem Rennrad»: Dem französischen Radprofi und studierten Philosophen Guillaume Martin ist als Autor ein Buch gelungen, das seine beide Passionen vereint und eine Sporterzählung mit Betrachtungen über das Wesen des modernen Sports und das Verhältnis von Körper und Geist verknüpft.

Über dieses Buch darf man schreiben, was man will. Mit Erlaubnis des Autors. «Sokrates auf dem Rennrad» sei «als beweglicher Text» verfasst, meint dessen Verfasser Guillaume Martin, als einer «mit Löchern», die jeder Leser «nach seiner Laune» fülle. Seine philosophischen und radsportlichen Referenzen seien nicht darauf angelegt, entschlüsselt zu werden. Jeder könne sich bedienen, wie und wo er wolle. Er habe ein Werk erschaffen wollen, «das zur Interpretation einlädt», sagt Martin.

Dabei gibt es im Sport, den dieser Mann ausübt, nichts zu interpretieren: Wer zuerst durchs Ziel fährt, hat gewonnen. In dessen Studienfach hingegen sind die Räume weit. Guillaume Martin, geboren 1993, ist ein französischer Radprofi. Und aber auch Philosoph.

Im Sattel ist Martin derzeit einer der weltbesten. Als Philosoph mag er Nietzsche besonders, den er in «Sokrates auf dem Rennrad» in der 9. Etappe den Bergpreis auf dem Mont du Chat gewinnen lässt. Von Nietzsche stammt der Satz: «Was mich nicht umbringt, macht mich stärker.»

Martins Buch erschien vor drei Jahren in Frankreich; jetzt ist es auch auf Deutsch erhältlich. Martin vereint darin seine zwei grossen Passionen, indem er die bedeutendsten Denker der Geschichte auf die bedeutendste Radrundfahrt der Welt schickt, die Tour de France: Spinoza und Sokrates, Marx und Macchiavelli, Platon und Pascal. Nebst Nietzsche natürlich und weiteren klugen Köpfen. Martin will solcherart «mit dem Vorurteil aufräumen, dass Spitzensportler nichts im Kopf hätten und auch nicht sonderlich viel Hirnschmalz benötigten» wie es auf dem Buchdeckel heisst.

Wenn Sie also Philosoph werden wollen, fahren Sie Fahrrad!

Einstein in «Sokrates auf dem Fahrrad»

Martin weiss, wovon er spricht. Als er für seine Masterarbeit, in der Nietzsche als heimlichen Vater des modernen Sports darstellt, einen wissenschaftlichen Betreuer suchte, stiess er auf Widerstand. Man habe sein Thema für «zu exotisch» befunden, schreibt der Autor. Dabei mache es ihm nichts aus, wenn viele Geisteswissenschaftler keine Ahnung von Sport hätten. Ihn störe vielmehr, dass diese Ignoranz keine Neugier hervorrufe, sondern Ablehnung. «Die Leute schätzen es im Allgemeinen nicht, wenn man ihre kulturellen Gewohnheiten über den Haufen wirft», stellt Martin fest.

Schneller zu fahren verkürzt die Distanz

So lässt er in seiner Tour der Velosophen selbige den Beweis antreten, dass Beine und Kopf sich gleichermassen verausgaben müssen, um am Schluss zuoberst auf dem Treppchen zu stehen. So schwierig kann das freilich nicht sein, hält man sich an Einsteins Anleitung, der in Martins Buch als deutscher Nationaltrainer auftritt: «Darum ist Fahrradfahren ganz leicht», wendet sich Einstein an sein Team: «Immer nur beschleunigen, damit Entfernungen schrumpfen.» Man müsse die Pedale wirbeln lassen, dann würden die Anstiege kürzer.

Angesichts solcher Logik und weiterer kluger Sätze in «Sokrates auf dem Rennrad» verliert freilich mancher Alltagsradler, zu denen auch ich mich zähle, sich leicht im Peloton und darin den Anschluss an die Spitze. Will heissen: Man ist geneigt, Velosoph Martin die Meinung zu unterstellen, nicht etwa seinesgleichen fehle es – siehe oben – an Hirnschmalz, sondern jenen, die dem Sport nur aus dem Sofa frönten.

Alles eine Frage der Interpretation also. Ich jedenfalls habe in diesem Buch manches nicht verstanden. Beziehungsweise mich ohne Denkpausse durchgelesen, weil es ja in der Rennfahrerei darauf ankommt, der Schnellste zu sein. Die wichtigen Sätze finden sich jedoch schon auf den Seiten 18 und 19 und sind der Grund, weshalb sich unsereins am liebsten täglich in den Sattel schwingt und Reisen verpedaliert: «Das Rad hilft beim Denken», lässt Martin Aristoteles an dieser Stelle sagen. Und weiter: «Flaubert sagte, man könne nur im Sitzen denken, wohingegen Nietzsche behauptet, nur Gedanken, die im Gehen kommen, seien etwas wert. So gesehen versöhnt das Rad Nietzsche mit Flaubert, denn hier werden beide Bedingungen erfüllt: Wenn wir Rad fahren, sind wir Sitzende, die sich bewegen. Wenn Sie also Philosoph werden wollen, fahren Sie Fahrrad!»

Weiter hinten sagt es Martin mit eigenen Worten: «Darum fahre ich Fahrrad: Weil dieses Objekt Geschichten erzeugt, in denen ich gleichzeitig Zuschauer und Handelnder bin.»

Um zu erleben, wie sich dies anfühlt, muss man nicht Philosophie studieren oder an der Tour de France teilnehmen. Es genügt, in die Pedale zu treten. Und die Kette mit Hirnschmalz zu schmieren.

Guillaume Martin: «Sokrates auf dem Rennrad. Eine Tour de France der Philosophen. Aus dem Französischen von Christoph Sanders, Covadonga Verlag, 2021, ISBN 978-3-95726-053-6, 224 Seiten, ca. Fr. 16.-

Zur Verlagsmitteilung

Teile diesen Beitrag

Kommentar verfassen