Längst fährt auch die Nonne Velo

200 Jahre Fahrrad – von der Kanzel aus betrachtet: 1817 baute der badische Forstlehrer Karl Drais mit dem Laufrad die Urform des heutigen Velos. Ein Blick zurück im Jubiläumsjahr zeigt: die Kirche mochte sich erst nicht in den Sattel schwingen.

Die Quellenlage sei zwar mager, räumt der deutsche Technikhistoriker Hans-Erhard Lessing ein. Das kurze Kapitel «Die Kirche und das Rad» in seiner neuen «Kulturgeschichte des Fahrrads» ist allerdings amüsanter Stoff. «Diabolische Werkzeuge des Dämons der Finsternis» seien «diese blasenrädrigen Fahrräder», zitiert Lessing darin einen Prediger im amerikanischen Baltimore im Jahre 1896. Und erklärt: «Das Fahrrad war der erste Schlag gegen die hehrste Einrichtung der Religionen, den sonntäglichen Kirchgang.»
Will heissen: «Radfahrer schwänzten die Messe.» So drückt es der Historiker Benedikt Meyer aus, der 2008 in seiner Lizentiatsarbeit die «Geschichte des Fahrradfahrens in der Schweiz» untersucht hat. Die Kirche habe ohnehin «ein eher verknorztes Verhältnis zum Körper», und Velofahren sei «nicht zuletzt ganz einfach eine körperliche Lust», sagt Meyer.
Der Widerstand brach freilich ein, je mehr Amerikaner sich ein Fahrrad kauften. Lessing erwähnt einen Pastor, der im Untergeschoss seiner Kirche den Radfahrern kleine Reparaturen erlaubte. Mit einem Hintergedanken jedoch: Die Leute sollten zur Kirche radeln, wo sogar jemand nach ihren Rädern sehe.

«Dem Höchsten näher»
Hierzulande – und damit meint Lessing Deutschland – scheine es «in den vom damaligen Kulturkampf geschwächten Kirchen» diese «amerikanische Heftigkeit» nicht gegeben zu haben. Er beruft sich dabei auf den Schriftsteller Eduard Bertz (1835–1931), der in seiner «Philosophie des Fahrrads» (1900) gegen «kirchliche Herrschsucht» anschrieb: «Wenn ein Radfahrer in der Feiertagsstille mit leuchtenden Augen an einem schönen Aussichtspunkte Halt macht und aufatmet in freudiger Naturandacht, so ist der dem Höchsten vielleicht näher als die Gemeinde auf der Kanzel.»

Es gab zudem, gerade auf dem Land, gute Gründe für die Kirche, sich in den Sattel zu schwingen. Benedikt Meyer weiss von einem Bündner Pfarrer, dem die Vorgesetzten das Velofahren verboten, weil es sich nicht schicke für einen Priester. «Das illustriert einen Konflikt. Einerseits war man gegen das Velo, andererseits waren nach den reichen Adeligen die Pfarrer die nächsten, die sich ein Rad leisten konnten und vor allem einen grossen Nutzen davon hatten. Sie gelangten so bei der Seelsorge schneller von Hof zu Hof und kreuz und quer durch ihre Pfarreien.»

Vergang’ne Zeiten. Der Aufschrei der Kirchen gegen das Fahrrad – der sich übrigens eine Generation später beim Auto wiederholte – verklang spätestens, als Filmpfarrer Don Camillo vor rund 60 Jahren seinen ewigen Widersacher Peppone auf dem Velo links überholte. Inzwischen gibt es Velowegkirchen, Velowallfahrten und Velosegnungen – das Velo gehört heute, je nach Saison, zum spirituellen Grundangebot.

Demütig, bescheiden
Meyer vermutet, dass die Kirche ihre Liebe zum Velo vor allem entdeckte, nachdem dieses vom Auto überholt worden war. «Die Nonne auf dem Fahrrad ist heute in Filmen ein gerne gewähltes Motiv. Warum? Weil das Velo ein demütiges, bescheidenes Gefährt ist. Man muss strampeln, muss sich abmühen, und ob man ankommt oder verhagelt wird, liegt nicht allein in der eigenen Hand.»
Ausserdem ist die Kirche inzwischen mit der Umweltbewegung verbunden – in der Schweiz offiziell seit 1986 über den Verein «oeku –Kirche und Umwelt». Benedikt Meyer: «‹Zurück zur Natur› kann auch als ‹Zurück zur Schöpfung› gelesen werden, und dazu ist das Fahrrad ja ideal.»

Quellenverweise

  • Hans-Erhard Lessing: Das Fahrrad, eine Kulturgeschichte. Verlag Klett-Cotta, 2017, ISBN: 978-3-608-91342-2
  • Benedikt Meyer: Vorwärts rückwärts, zur Geschichte des Fahrradfahrens in der Schweiz. Verlag Traugott Bautz, 2014, ISBN 978-3-88309-880-7
Die Freude steht ihm ins Gesicht geschrieben: der Buttisholzer Pfarrer Edi Birrer im Mai 2010 an einer Velosegnung. | © 2010 pd
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