Nach Tagen und Wochen im Sattel – was bleibt davon haften? Welche Bilder sehen wir vor uns, Jahre später noch, welche Stimmen haben wir noch in den Ohren?
Ein Blick zurück. Im Sommer 2000 fuhren wir mit unseren drei Kindern, damals 10, 9 und 7, von Meiringen nach Bern. Wovon sie heute noch erzählen: Vom «Schlafen im Stroh» in Zimmerwald, wo der Älteste Traktor fahren durfte und von der Bäuerin uns grosszügig mit Bratwürsten für dem Grillabend versorgte. Zwei Jahre später an der Donau: Da war jene junge Frau, die auf Inline-Skates unseren Weg kreuzte, uns anhielt und mich anging, ihr wenige Kilometer entferntes Auto zu holen; sie sei am Ende ihrer Kräfte. Ich tat, wie gebeten, kehrte heil wieder, aber die Kinder von damals fürchten noch heute einen Entführ- und Beraubungsversuch. An 2004 an der Nordsee schliesslich erinnert im Album jenes Bild aus der «Brunsbütteler Rundschau», das Liebmütterchen in Grossaufnahme zeigt, in den Augen der Kinder peinlicherweise mitschunkelnd an einem Seemannsliederfestival tags zuvor. Die Fotografin der Zeitung hatte im richtigen Augenblick auf den Auslöser gedrückt.
Will heissen:
Orte und Landschaften, durch die wir pedaliert sind, verblassen mit den Jahren, die Begegnungen und Erlebnisse hingegen bleiben. Stichworte im Notizbüchlein, das ich jeweils mit mir führe, genügen, um sie wieder lebendig werden zu lassen. Zu Geschichten, die wir uns am Familientisch wieder und wieder erzählen.
Dieses Jahr, längst nur noch zu zweit, waren wir auf dem Alpe-Adria-Radweg von Salzburg nach Grado sowie im Südtirol unterwegs. Was es dabei zu sehen gibt, weiss das Internet. Ausführungen dazu sparen wir uns deshalb. Wer und was hingegen uns auf den 700 Kilometern begegnet und widerfahren ist, sind neue von diesen Geschichten. Einzigartig wohl, aber jeder kann solche erleben, wenn er nur unterwegs die Ohren spitzt und sich auf Plaudereien einlässt.
Also:
Auf dem Pass Lueg, am ersten Tag, treffen wir beim Pausieren Jörg und seinen Sohn Henri. Die beiden stammen aus Hannover, haben schon 800 Kilometer in den Beinen und nennen die Insel Kreta als ihr Ziel. Zwei Monate nehmen sie sich Zeit. Henri, ein 21-Jähriger mit Down-Synodrom, steckt uns mit seiner Lebensfreude und Direktheit an und überrascht uns mit seinem Wissen; Jörg, ein freischaffender Berater, beeindruckt mit seinem Mut, eine solche Reise zu unternehmen, und seiner Gelassenheit. Auf dem Zeltplatz in Pfarrwerfen am Abend begegnen wir uns wieder, danach verlieren wir uns aus den Augen, um uns zwei Tage später in Spittal wieder zu treffen – mit grossem Hallo.
Auf dem gleichen Zeltplatz schenkt uns ein junger Niederländer einen Dusch-Jeton. Er müsse nach Hause und brauche ihn nicht mehr. Das kurze Gespräch ergibt: der Mann stammt aus Arnheim und kennt die Hochschule gut, an der unsere jüngere Tochter ein Jahr weilte.
In Bad Gastein bestellen wir des Abends Brot fürs Frühstück anderntags. Auf der Liste, auf der man sich einzutragen hat, zeichnen wir ein Smiley hinter die gewünschte Anzahl Brötchen. Folge: Auf der Tüte, in der unsere Lieferung steckt, antwortet der Bäcker (oder wer auch immer) mit einem ebensolchen Lachgesicht neben unserem Namen. Herzliche Grüsse an dieser Stelle in die Backstube!
Beim Veloverlad in den Zug durch die Tauernschleuse nach Mallnitz treffen wir Günther und Ida ein erstes Mal. Sie verblüfft, wiewohl ebenfalls aus den Niederlanden stammend, mit ihrem Schweizer Dialekt, den sie sich während ihres Germanistik-Studiums in Bern und Zürich angeeignet hat, er, Deutscher, entpuppt sich als Meteorologe. Die beiden leben seit 16 Jahren Linköping in Schweden und wollen mindestens noch bis Triest pedalen. Wir treffen uns noch in Spittal und Villach, bis sich, welch ein Zufall, am Ende unsere Wege buchstäblich kreuzen: Auf dem Damm nach Grado, das wir verlassen und sie anpeilen. Aus dem gemeinsamen Nachtessen wird leider nichts, das holen wir aber womöglich nächstes Jahr in ihrer Wahlheimat nach.
Auf der alten Bahntrassee unterhalb von Pontebba kommen wir mit einer Gruppe Gümmeler (siehe Beitragsbild oben) ins Gespräch, die eine Runde über die Selle Nevea dreht, den Neveasattel. Ihr Guide Marco ist Gastgeber des Valbruna-Inn in einem Seitental weiter oben, des einzigen Fünf-Herzen-Hotels weltweit, wie er betont. Er lädt uns zu einer Flasche Wein ein, wenn wir bei ihm vorbeikämen. Den Abzweiger mit dem herrlichen Blick auf die Julischen Alpen hatten wir gestern bemerkt. Und lernen, einmal mehr: Manchmal sollte man vom Weg abweichen, um ans Ziel zu kommen.
In Muggio Udinese im unteren Val Canale fragen wir den freundlichen Herrn, der den Radtouristen dort angesichts der undurchsichtigen Wegführung die Richtung weist («Ein Service unserer Gemeinde») nach einem Zugang zum Wasser. Ma sì!, lautet die Antwort, und wir werden um drei Kurven 200 Meter weiter zu einem Wasserfall mit zwei kleinen Becken geschickt, wo man baden kann. Wir schieben die Velos durchs Geröll und sind platt: Ein– che bello! – Badeplatz wie aus dem Ferienkatalog, 20 Meter unter einer Autobahnbrücke. Wir lernen daraus: Mitunter ist es von Vorteil, untendurch zu müssen.
Ausgangs Spittal bremse ich brüsk: Ein Handy liegt mitten auf dem Radweg. In Funktion, geladen, aber leider gesperrt. Was tun? Wir werweissen und retten das Samsung schliesslich vor dem Überfahren-werden in meinen Hosensack. Eine Viertelstunde später klingelt es darin. Doch das Annehmen des Gesprächs misslingt. Einige Kilometer weiter schreibt die Angetraute «Handy gefunden» auf den Asphalt und meine eigene Nummer hinzu. Was aber nichts bringt. Am Nachmittag klingelt es erneut, diesmal klappts mit dem Abnehmen. Eine Jasmin meldet sich, die den Handy-Eigentümer gesucht hat, von mir überrascht wird und von da weg vermittelt. Wir vereinbaren, dass ich das Samsung am Abend auf dem Camping in Villach hinterlege. Wenig später trifft eine WhatsApp-Nachricht vom Absender «Zuckerschnecke» ein: «Wie lang tuast denn hoit Abend?», will die Unbekannte wissen. Das wissen wir leider nicht. Und rätseln anderntags, als eine SMS von Jasmin eintrifft, die sich «herzlichst» dafür bedankt, «dass Sie mein Handy in sicherer Obhut hinterlegt» haben. Mein Handy? Wer ist diese Jasmin? Wer die süsse Schnecke? Wissen die beiden voneinander? Und gibt es gar keinen Handybesitzer? Da bereits in Italien unterwegs, stellen wir die Ermittlungen jedoch ein.
In Udine – kleiner Werbeeinschub – ist das Bed-and-Breakfast Trecuori von Fiametta eine unbedingte Empfehlung. Hinter einer unscheinbaren Fassade verbirgt sich eine Herzlichkeit in Gestaltung und Betreuung sondergleichen. Und das zehn Fussminuten vom Zentrum entfernt.
In Spittal hatte ich die lange Wäscheleine von zwei Familien fotografiert, die mit ziemlich viel Sack und Pack unterwegs war. Fünf Tage später in Palmanova, fährt die fröhliche Truppe uns buchstäblich vors Mittagessen, als wir dort schattensuchend rasten. Wir kennen uns doch, entfährt es uns wie ihnen, woraus wir uns zusammensetzen und ins Plaudern kommen. Unsere Gegenüber stammen aus Lyon und dem Elsass; der redseligere der beiden Väter wickelt tatsächlich einen Prosecco aus einem Badetuch und lädt uns zum Mitrinken ein. Den noch erstaunlich kühlem Apéro verkosten wir direkt aus der Flasche. Eine halbe Stunde später revanchieren wir uns mit einer Runde Gelato, wodurch auch die vier Kinder Nutzen aus der Begegnung ziehen.
Bereits auf dem Heimweg, campieren neben uns in Santa Maria im Münstertal Markus und Rebekka aus dem Aargau mit ihren vier Kindern. Das fröhliche Hin-und-Her, das sich schnell ergibt, gipfelt am anderen Morgen in einem beiderseits guten Tausch: zwei bequeme Campingstühle von ihnen gegen einen halben Zopf von uns. Sie haben am Vorabend die Brotbestellung verpasst, wir, wie immer, nichts zum Sitzen dabei.
Schliesslich, grande Finale, am frühen Sonntag Morgen auf dem Ofenpass: Die zwei Wandersmänner, die wir bitten, uns zu fotografieren, erweisen sich als fröhliche Bündner; wir wünschen uns gegenseitig einen guten Tag, worauf sie bergwärts steigen und wir tal- und heimwärts sausen.
In vielerei Hinsicht bereichert.
1 Kommentar
Hallo,
wir kennen auch unzählige solcher Geschichten. Auch wir lieben das Reisen mit dem Rad und können uns gar nichts andres vorstellen. Auf die Frage wenn wir irgendwo Menschen treffen die ungläubig fragen – und alles mit dem Rad? Unsere Antwort ist meist , : können sie sich noch andere Möglichkeiten vorstelln ?
Viel Spass bei allem was ihr vorhabt