Wenn das Wort «Velo» sogar im Filmtitel vorkommt, muss sich der Velofahrer unbedingt ins Kino bemühen. Das Plakat des Streifens «Le gamin au vélo», der Junge mit dem Velo, verspricht allerdings leichtere Kost als man annehmen könnte. Der Bub im roten T-Shirt, der da mit seiner Begleiterin guter Laune dahinradelt, hat kein leichtes Leben. Das Velo ist sein über alles geliebter Begleiter. Er strampelt darauf aber gewissermassen um Liebe und Vertrauen. Einem Vater hintennach, der ihn verstösst, einer Mutter, die schon gar nicht vorkommt. Dabei wäre es doch, und dies ist zugleich das Fazit, so einfach: Seine Kinder liebhaben, bedingungslos; ihnen vertrauen, damit sie ihre eigenen Wege gehen können; sie ermutigen, auf dass sie stark werden; ihnen die Freiheit gönnen, damit ihre Ideen nicht bloss solche bleiben. Für den Velofahrer und seiner Frau Gemahlin jedenfalls waren gestern Abend nach dem Kinobesuch solche Überlegungen das Gesprächsthema.
Wie ein Wahnwitziger
Die nachstehende Zusammenfassung und Rezension habe ich dem «ZüriTipp» des «Tages-Anzeigers» entnommen:
An den Rändern der Gesellschaft, wo die Brüder Dardenne ihre Sozialdramen ansiedeln, ist das Überleben anstrengend und gnadenlos: So kämpft Rosetta unter den Gestrandeten einer Wohnwagensiedlung verzweifelt um ein Fleckchen Normalität («Rosetta»); die Albanerin Lorna geht unten durch für eine Existenz im Westen («Le silence de Lorna»). Und in «L’enfant» geht ein Kleinkrimineller sogar so weit, für 5000 Euro das eigene Baby zu verkaufen.
So erstaunt es nicht, wenn wir den zwölfjährigen Cyril (Thomas Doret) aus «Le gamin au vélo» zuerst vor allem strampeln sehen: Wie ein Wahnwitziger flitzt der Heimzögling durch sein junges Leben und die Strassen von Seraing. Thomas Doret spielt diesen Buben so unzähmbar lebenshungrig, dass sich die Leinwand regelrecht auflädt mit seiner verzweifelten Energie.
Das Fahrrad bedeutet Cyril alles, denn er hat es einst von seinem Vater Guy (Jérémie Renier) geschenkt bekommen. Doch der ist umgezogen, ohne seinem Sohn eine Adresse hinterlassen zu haben. Noch schlimmer: Guy hat das Fahrrad einfach weiterverkauft, als ob es noch einen Beweis mehr bräuchte für seine Lieblosigkeit. Doch dann geschieht ein Wunder: Cyril rennt auf der Flucht vor wohlmeinenden Pädagogen eine Coiffeuse (Cécile de France) um. Und diese Samantha hält fortan ihre kräftigen und schönen Arme schützend über den Knaben. Ohne Erklärung, einfach so.
Den Dardennes wurde vorgehalten, das Verhalten ihrer Heldin sei unglaubwürdig. Dabei ist gerade die Unerklärlichkeit ihrer Güte so wohltuend. Cécile de France sagt denn auch, sie habe sich bei der Interpretation ihrer Rolle darauf konzentriert, jegliche Psychologie zu vergessen.
So entsteht ein Film wie im Konjunktiv: Was wäre, wenn ein vom Unglück Verfolgter für einmal Glück hätte? Und wie könnte es sich auf sein Verhalten auswirken? Denn natürlich ist Cyril von nun an nicht gegen Versuchungen gefeit. Paradoxerweise animiert einen der märchenhafte Plot dazu, sich vorzustellen, wie schief alles hätte ausgehen können. So aber dürfen wir uns für einmal freuen. Lange wird die Freude sowieso nicht anhalten. Denn der nächste finstere Dardenne-Film kommt bestimmt.
Warum schliesst er das Velo nicht ab?
Die «NZZ am Sonntag» ist in ihrer Kurzkritik in der heutigen Ausgabe ein bisschen pingelig – Filmkritiker heissen halt eben nicht nur so, wie wollen es schliesslich auch sein. Motivation und Psychologie der Figuren seien zu wenig ausgearbeitet, heisst es in dem kurzen Text. «Eine Frage reicht, und der Plot bricht zusammen: Wenn Cyril sein Velo so liebt, warum schliesst er es nicht ab? Unerklärlich, weshalb der Film in Cannes den zweiten Preis gewann.»
Nun, die Frage nach dem Veloschloss ist zwar berechtigt, aber sie interessiert hier schlicht nicht. «Le gamin au vélo» ist auch kein Velofilm. Es ist ein Film über die (elterliche) Liebe und das Vertrauen zu unseren Kindern und Jugendlichen, zuweilen unter die Haut gehend erzählt.
Der Trailer zum Film